Pop

Manifest für eine langsamere Gangart

Komponist Max Richter über sein jüngstes Werk "Sleep",Lullabys und die "Goldberg-Variationen".

Ihr achtstündiges Stück „Sleep“ soll eine Manifestation für eine langsamere Gangart des Lebens sein. Ist das der Inbegriff dessen, was heute an Subversion möglich ist?

Max Richter: Wir leben in einem unglaublich beschleunigten Datenuniversum, in dem jeder permanent Informationsflüssen ausgesetzt ist. Das erzeugt hohen psychologischen Druck und raubt viel Energie. Aus meiner Perspektive kann kreative Arbeit einen multidimensionalen Raum schaffen, in dem sich das Publikum auf tiefere Weise mit Dingen auseinandersetzen kann. Die Minimal Art hat uns etwa einen neuen, tieferen Blick gelehrt. In ganz ähnlicher Weise suche ich eine neue Beziehung mit dem Hörer.

Was haben Sie als Künstler bei der Uraufführung von „Sleep“ im September in London erlebt?

Das Konzert begann um Mitternacht. Einige Leute haben auf den für sie aufgestellten Feldbetten durchgeschlafen, andere sind zuweilen eingenickt. Ein harter Kern blieb durchgehend wach. Es war ein faszinierendes Experiment zu erleben, wie die Hörer auf die 31 Teile des Stücks reagierten.

Die Intention war ja, dass die Menschen zu Ihrer Musik durchschlafen sollten. Wie komponiert man für Schlafende, wie umschifft man das kontrollierende Ich?

Es gibt in „Sleep“ zwei Arten von Musik, die zum Schlaf führen. Sie setzen unterschiedliche Modi des Zuhörens voraus. Die eine Art von Material ist thematisch strukturiert. Hier geht es um Variationen, die den eher analytischen, kulturell engagierten Hörer einladen. Die andere Art der Klänge gleicht einer Textur, deren Haptik zu erforschen ist. Das ist dann mehr mit dem Gefühl zu vergleichen, das man hat, wenn man eine Landschaft überschaut und zu erkennen versucht. Diese beiden Pole kommen alternierend vor, manchmal überschneiden sie sich.

Welchen Einfluss haben Bachs „Goldberg-Variationen“ auf „Sleep“?

Sie waren mir gewissermaßen Anstoß. Es gibt diese schöne Anekdote, nach der Bach im Auftrag des russischen Gesandten am sächsischen Hofe, Graf Keyserlingk, dieses Werk komponiert hat. Es galt, die Schlaflosigkeit des Grafen zu bekämpfen. Sein Cembalist Goldberg hat, um ihn aufzuheitern, Nächte durchspielen müssen. Da war viel Repetitives dabei, aber er hat sich durch die Wiederholungen neues musikalisches Territorium erspielt. Wenn's nicht stimmt, so ist es wenigstens eine gute Story. Aber das Prinzip ist ein gutes: Als spaziere man um eine Skulptur herum und entdecke jedes Mal ein neues Detail.

War es für „Sleep“ notwendig, sich in die Schlaflosigkeit anderer hineinzufühlen?

Ich überlegte, was ich denn gern hören würde, wenn ich nicht einschlafen könnte. Wichtig wäre, dass ein Teil der Musik vertraut, ein anderer fremd sein muss. Es sollte ein „low information environment“ sein, das mit Variationen tändelt. Ich habe auch viel mit meiner Frau über die Verbindung von Schlaf und Musik gesprochen. Wir diskutierten über das Universelle der Lullabys. Es gibt sie in allen Kulturen. Der Mensch hat ganz intuitiv eine Verbindung von Schlaf und Musik herbeigedacht.

Sie hatten bei der Vorbereitung des Projekts Gedankenaustausch mit dem amerikanischen Neurowissenschaftler David Eagleman. Was lernten Sie dabei?

Vor allem, dass im Schlaf ganz klandestin die wohl wichtigsten Prozesse des Bewusstseins passieren. Wir sagen gern, dass wir über eine Entscheidung schlafen wollen. Das bedeutet nichts anderes, als dass das Gehirn die Information im Schlaf neu strukturiert und uns so am nächsten Morgen eine neue Perspektive bietet.

Steckbrief

Max Richter arbeitete in den Neunzigern mit den experimentellen Elektronikern Future Sound of London, schrieb aber auch klassische Ballettmusik, machte Filmsoundtracks (etwa für den Antikriegstrickfilm „Waltz for Bashir“) und vertonte die Tagebücher von Franz Kafka.

„Sleep“
ist eine achtstündige Komposition, die beim Durchschlafen helfen soll. Yulia Mahr

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2015)

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