Die Franzosen erinnern sich gerade an ein dunkles Kapitel ihrer Geschichte. In Rivesaltes, am Ort des größten westeuropäischen Internierungslagers, wurde eine Gedenkstätte eröffnet.
„Wenn man hier lebt, braucht man keinen Urlaub mehr zu machen“, sagen die Einwohner der Stadt Perpignan im südfranzösischen Departement Pyrénées-Orientales. Man blickt vom Stadtturm aus auf die Pyrenäen und auf das Mittelmeer, die Region wird dominiert von den Hängen, an denen der berühmte Banyuls, ein süßlicher Muskatwein, wächst. Wie Perlen auf einer Schnur sind Badeorte aneinandergereiht, Millionen machen wegen des mediterranen Klimas hier Ferien. Am Freitag der vorigen Woche kamen Vertreter der französischen Regierung, angeführt von Ministerpräsident Manuel Valls, zur Eröffnung einer Gedenkstätte hierher, nicht in das idyllische Herz des Weinbaugebietes von Rivesaltes, sondern auf eine verdorrte Hochebene außerhalb, 15 Kilometer vom Mittelmeer entfernt.
Das Mahnmal erinnert an ein dunkles Kapitel der französischen Geschichte, hier wurde 1939 das größte Internierungslager Westeuropas errichtet, in dem französische Regierungen, zuletzt noch 2007, zehntausende „Indesirables“, unerwünschte Fremde, die durch das Chaos der Kriege des 20. Jahrhunderts vertrieben wurden, unter teils grauenvollen Umständen internierten.
Die „Hölle von Rivesaltes“ ist in Erinnerungen, Erzählungen, Briefen und Bildern dokumentiert, doch viel liegt noch im Dunkeln. Viele Opfer wollten nie wieder daran erinnert werden, das Geschehen wurde in Frankreich lange verdrängt und ist durch die Situation zuwandernder Flüchtlinge in Europa brandaktuell geworden. Wie an keinem Punkt des Landes sonst kann man hier die krisenhafte Zuspitzung des Umgangs mit Flüchtlingen und Fremden in der Geschichte der letzten 70 Jahre studieren.
Am Rande der Weinberge liegt auf einer kargen Hochebene, die heute ein Militärgebiet ist, ein trostloses Gewirr von verfallenen Baracken, Ruinen und verrostetem Stacheldraht, hier bläst im Winter die kalte böigeTramontana von den Pyrenäen herab durch die Trümmerlandschaft mit ihren Ziegelhaufen und verdorrten Dornbüschen. Was sich hier ab 1939 abspielte, mutet an wie ein Vorspiel für die Apokalypse, die sich kurze Zeit später im östlichen Europa abspielte. Auf dem rund 6000 Hektar großen Militärgelände wurden Vertriebene dreier Kriege interniert, eines Bürgerkriegs, eines Kolonialkriegs und eines Weltkriegs. Einmal Lager, immer Lager. Zunächst nannten die Franzosen es „Konzentrationslager“, in aller Unschuld, bis durch die nationalsozialistische Lagerpraxis diese Bezeichnung unmöglich gemacht wurde.
„La France aux Francais!“
Die ersten waren Flüchtlinge des spanischen Bürgerkriegs. Am 26. Jänner 1939 kapitulierte Barcelona vor Francos Truppen, es folgte die „Retirada“, hunderttausende Katalanen flohen über die Pyrenäengrenze nach Norden, die geschlagenen republikanischen Soldaten, Kriegsverwundete, Zivilisten, viele Bauern mit ihren Tieren, insgesamt eine viertel Million Menschen stand plötzlich vor der französischen Haustür. Katalanen waren es hier wie dort, dennoch waren sie unwillkommen. Ihre Zahl war größer als die des gesamten französischen Departements, Frankreich zeigte sich überrascht, hatte nichts vorbereitet, weder Verpflegung noch Unterkünfte für einen derartigen Exodus, fürchtete „linke“ Revolutionäre.
Die Militärs verachteten und verspotteten die „desertierenden“ Soldaten, sie wussten nicht, wie schmachvoll ihre Niederlage gegen Hitlers Wehrmacht bald sein würde. Doch man konnte die Menschen den Winter nicht in Erdlöchern verbringen lassen und begann, ein Barackenlager zu errichten.
Zehntausend Spanier waren hier noch untergebracht, als bei Kriegsausbruch im September 1939 die in Frankreich ansässigen deutschen und österreichischen Staatsbürger interniert wurden, fast alle Gegner des Nationalsozialismus und vor dem Regime auf der Flucht, die meisten unter ihnen Juden. Sie waren in das Land geflohen, das sich als Wiege der Menschenrechte verstand. Nun wurden sie in die südfranzösischen Lager gepfercht, neben Rivesaltes entstanden welche in Vernet, Argèles-sur-mer, in Gurs, dazu das „Künstlerlager“ von Les Milles. „Die Internierung so vieler Leute, die sich einwandfrei als erbitterte Gegner der Nazis erwiesen hatten, war eine dumme, ärgerliche Komödie“, schrieb der Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der seine Erlebnisse als Gefangener in dem Buch „Der Teufel in Frankreich“ festhielt.
Emigrierte Nazigegner und Intellektuelle wie der Maler Max Ernst oder Thomas Manns Sohn Golo wurden in Les Milles – in einer ehemaligen Ziegelei – damit beschäftigt, Ziegelstapel aufeinanderzulegen, die sie am nächsten Tag wieder abtragen durften. Beinahe 20.000 Menschen froren nun in den Baracken von Rivesaltes, die nicht beheizt waren und keine Fensterscheiben besaßen, auf doppelstöckigen Holzpritschen ohne Strohsack und ohne Decken, die Menschen litten unter katastrophalen hygienischen Bedingungen und Essensmangel.
Unter ihnen war auch der österreichische Schriftsteller Albert Drach, der dem Lager durch Uminterpretation seines Dokument-Kürzels I.K.G. („Israelitische Kultusgemeinde“) zu „Im katholischen Glauben“ gelang, sich als „Arier“ auszugeben, dem Lager entkam und sich in den französischen Alpen versteckte.
„Vorhof der Vernichtung“
Nach der Teilung des von Hitler besetzten Frankreich durch eine Demarkationslinie inhaftierte die mit Deutschland kollaborierende Vichy-Regierung von Marschall Pétain Juden, Sinti und Roma in Rivesaltes, im Sommer 1942 fuhren dann neun Geisterzüge mit 2289 Juden, darunter 110 Kindern, von hier über das Sammellager Drancy nach Auschwitz. Nur ein Bruchteil, vor allem Kinder, konnte gerettet werden, dank des karitativen Einsatzes engagierter Frauen aus der Schweiz, die in einer Art internationalem Zivildienst für das Rote Kreuz arbeiteten und im Ausland mehr Anerkennung fanden als in der machtpolitisch kalkulierenden Heimat. Unter ihnen war Friedel Reiter-Bohny, die spanische, jüdische und Roma-Kinder vor dem Hungertod und der Deportation rettete, indem sie sie im Lebensmittellager versteckte oder aus dem Lager schmuggelte. Sie wurde für ihre Verdienste in Yad Vashem als „Gerechte“ geehrt, ihr Tagebuch „Vorhof der Vernichtung“ erschien 1995 und wurde kurz darauf verfilmt.
Nach dem Film meldeten sich viele, die sie gerettet hatte und die sich jetzt bei ihr bedankten, viele verdrängte Geschichte kamen zum Vorschein, jetzt erst wurde die mutige Frau auch in der Schweiz rehabilitiert. Aus ihrem Tagebuch: „Fürchterliche Hitze im Lager. Der Stacheldraht, der eng um Block K und F verläuft, ruft Beklemmung hervor. Die Klagen der gequälten Menschen liegen noch in der Luft. Ich sehe sie in langen Reihen aus ihren Baracken kommen und unter dem Gewicht ihrer Habseligkeiten nach Luft ringen. Die Wächter an ihrer Seite. Sich in einer Linie für den Appell stellen. Stundenlang in der gleißenden Sonne.“
Nach 1945 waren die Baracken wieder gefüllt, mit Nazikollaborateuren und deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen. Am Ende des Algerienkrieges wurden von 1962 bis 1964 sogenannte „Harkis“ hier untergebracht, 20.000 Algerier mit ihren Familien, die während des Kriegs als Hilfssoldaten auf Seiten Frankreichs gekämpft hatten und nach Algeriens Unabhängigkeit aus ihrem Land vertrieben wurden. Gekümmert hat sich die Politik um sie erst Jahrzehnte später, wenn sie die Stimmen der „Harkis“ bei Wahlen brauchte. Das Lager Rivesaltes wurde 1964 geschlossen, doch „unerwünschte“ Ausländer, etwa illegale Einwanderer, wurden auch noch zwischen 1986 und 2007 hier untergebracht.
Ein ockerfarbener 210 Meter langer geduckter Flachbau, entworfen vom Architekten Rudy Ricciotti, bildet nun den Kern der Gedenkstätte, sie soll in der Höhe bewusst nicht die danebenliegenden verfallenden Ruinen und Baracken überragen. Die Dauerausstellung will „Fragen an die Welt von heute und morgen“ stellen. „Der Quader liegt da wie ein Klotz, der schwer wiegt für das Gewissen“, sagt der Architekt.
Heute leben in Calais 3000 Flüchtlinge ohne Strom und fließendes Wasser und hoffen auf eine Passage nach England. Doch das Schicksal etwa der Syrer von heute, die wie einst die Spanier in die Mühlsteine eines Bürgerkriegs geraten sind, ist nicht mit dem der Juden von 1942 vergleichbar. Die Eröffnung der Gedenkstätte ruft aber in Erinnerung, wie schwer sich Europa in seiner Geschichte mit den Themen Emigration und Flucht getan hat und dass die Reaktionen von Angst, Ablehnung und Aussperrung in demokratischen Staaten dem gleichen Mechanismus folgen wie vor Jahrzehnten. Die Einweihung einer Gedenkstätte allein wird nicht reichen, um zu verhindern, dass dieses vergiftete Erbe des vorigen Jahrhunderts wieder wirksam wird.