Argentinien: Das tränenreiche Finale des „Kirchnerismo“

Cristina Fernández de Kirchner
Cristina Fernández de Kirchner(c) AFP (--)
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Am Sonntag wählt das südamerikanische Land einen neuen Präsidenten – und entscheidet darüber, ob die Ära Kirchner der Vergangenheit angehört. Nachhaltige Spuren hat das Ehepaar Kirchner jedenfalls hinterlassen.

Buenos Aires. Eigentlich ist alles wie immer. Die Präsidentin eröffnet eine Fabrik. Die Präsidentin weiht eine Autobahn ein. Die Präsidentin spricht vor Werktätigen in Arbeitsmontur. Stets tut sie das ausführlich, manchmal tanzt sie auch, etwas ungelenk, aber bemüht. Und immer ist das Fernsehen live dabei. Doch von dieser Telenovela sind die letzten Kapitel zu sehen. Am Sonntag kandidieren fünf Männer und eine Frau für den Platz im rosa getünchten Regierungspalast von Buenos Aires. Und für den 10. Dezember ist dann das Finale grande nach zwölfeinhalb Jahren terminiert: Da wird Cristina Fernández de Kirchner die weißblaue Amtsschärpe ihrem Nachfolger übergeben.

Gewiss werden Tränen fließen. Denn Politik war stets Emotion an den Gestaden des Río de la Plata. Und die Ära Kirchner, vor allem die letzten fünf Jahre unter Cristina, mit ihren Rolex-Uhren, ihren Südseeperlencolliers, ihren Louboutin-Pumps und Hermès-Handtaschen wurde zu einem Stoff, der Journalisten und sogar Romanciers inspirierte. Wird das nun das Ende des „Kirchnerismo“ – jenem Herrschaftsprojekt, das in der Asche des Schuldeninfernos der Jahrtausendwende keimte? In jenen chaotischen Monaten, als in Argentinien 15 regionale Währungen zirkulierten, als 56 Prozent der Bevölkerung unter die Armutsgrenze gefallen waren, als das Land nach dem Staatsbankrott auf dem Boden lag. Diese Zustandsbeschreibung gehört zum Gründungsmythos, den die Präsidentin in fast jede ihrer Reden einflicht. Was Kirchner freilich nie erwähnt: Als ihr Gatte, Néstor, 2003 das Land übernahm, war es bereits auf dem Weg nach oben. Die Megaabwertung und die Rückkehr vom Dollar zum Peso hatten andere eingeleitet. Néstor, der Patagonier aus der fernen Südprovinz Santa Cruz, wo mehr Pinguine als Menschen leben, begann mit Rückenwind, mit einem Rohstoffboom, der die gesamte Region erfasste.

Gleichwohl zählen die meisten Politikverständigen die erste Phase Kirchner zu den Glanzlichtern in 205 Jahren Landesgeschichte. Mangels eigener Mehrheit suchte Kirchner Konsens im Kongress, mit der Opposition schasste er die Menem-Mafia. Er hielt den Peso niedrig und setzte so die Basis für das Wiedererwachen der Industrie, die in den 1990ern ihre Maschinen hatte stilllegen müssen. Millionen Arbeiter fanden einen Job und bekamen Lohnerhöhungen durch Kollektivverträge. Kirchner holte argentinische Wissenschaftler aus Europa und Nordamerika heim; er handelte einen für das Land befreienden Schuldenschnitt aus. Vor allem schaffte Kirchner die schändlichen Amnestiegesetze ab, mit denen seine Vorgänger Befehlshaber und Schergen der Militärjunta einer gerechten Strafe enthoben hatten. Hunderte Mörder, Folterer, Ärzte und sogar Geistliche wurden inzwischen verurteilt, der Anführer der ersten Militärjunta, Jorge Rafael Videla, starb im Gefängnis. Das ist wohl die größte Leistung Néstor Kirchners – nach Jahrzehnten der institutionellen Feigheit.

Kühn waren die Kirchners stets, das wertet selbst ihr prononciertester Kritiker als Qualität, auch wenn er vor allem die kriminelle Kühnheit des „Kirchnerismo“ denunziert. Der Journalist Jorge Lanata berichtete über den Vizepräsidenten, der sich über Strohleute jene Fabrik sicherte, in der die Geldscheine gedruckt werden. Über einen ehemaligen Bankangestellten, der unter Kirchner zum größten Bauunternehmer der Provinz Santa Cruz wurde und über 90 Prozent aller Bauanträge bekam. Lanata legte dar, dass dieser Unternehmer Millionen für Hotelzimmer ausgab, die niemand bewohnte, die aber der Familie Kirchner gehören. Inzwischen ermitteln Richter gegen den Vizepräsidenten, den Baulöwen und den Kirchner-Sohn Maximo.

Schwarz-Weiß-Malerei als Programm

Solche Skandale kamen ans Licht, weil es den Kirchners trotz allen Bemühens nicht gelang, sämtliche Medien und die Justiz zu kontrollieren. Unter Kirchner multiplizierte sich das Budget für staatliche Reklame um den Faktor 57. Um ihre Version der Dinge zu verlautbaren, schuf die Regierung ein Imperium aus TV, Radio, Print und Online. Heute hat das 40-Millionen-Land sieben Nachrichten-TV-Kanäle. Doch zum erklärten Verdruss der Mächtigen bevorzugen 80 Prozent der Bevölkerung jenes Fünftel aller Medien, das nicht aus Kirchners Kassen gefüttert wird.

Wie alle Spielarten des Populismus lebte auch der „Kirchnerismo“ von der Schwarz-Weiß-Malerei: auf der einen Seite der Staat, die Präsidenten und das Volk, auf der anderen Seite das Böse, in Gestalt von „corporaciones“. Heute spaltet ein Graben Argentinien. Ein Drittel der Bevölkerung folgt der Regierung unbeirrt, ein Drittel lehnt alles ab, was die Kirchner-Administration angeschoben hat, auch die Neugründung von Universitäten, die Schwulenehe, die Renationalisierung der Erdölgesellschaft YPF und den Bau des kolossalen Centro Cultural Néstor Kichner, ein argentinisches Centre Pompidou.

Zwischen beiden Lagern pendelt das dritte Drittel, das seine Sympathien nach Kassenstand und Kriminalitätsentwicklung vergibt. 2011, als Cristina Kirchner mit 54 Prozent im ersten Wahlgang gewann, wuchs das Land um (frisierte) sieben Prozent. Um das darauf folgende Budgetdefizit zu reduzieren, verhängte Cristina Kirchner Kapitalkontrollen – und verschreckte ausländische Investoren. Seither wuchs das Land nicht mehr, aber die Preise stiegen um etwa 100 Prozent. Die Armut legte wieder zu, die Angst vor dem Verbrechen wuchert, auch angefacht durch neue Kriege zwischen Drogengangs, die Städte wie Rosario und Santa Fé unter die Top 50 der Weltmordmetropolen brachten.

Stützen vom Staat

Als Gegner hat die Präsidentin „die Geier“ an der Wall Street ausgemacht. Buenos Aires wurde mit Plakaten zugekleistert, die hässliche Greifvögel abbildeten, dekoriert mit einer US-Flagge. Kirchners Kalkül ging auf: Der Schaukampf gegen die „Geier-Fonds“ ließ ihre Zustimmungswerte steigen. Nur hat ihre Regierung das Steuersystem, in dem Reiche Kosten für Hausangestellte absetzen können, viele Industriearbeiter aber den Höchststeuersatz leisten, nie angetastet. Argentinien ist das einzige Land des Subkontinents, in dem Aktiengewinne unbesteuert bleiben. Bergbaukonzerne können Gold und Kupfer aus den Anden sprengen, fast ohne Steuern.

V. a. ist es den Kirchner-Regierungen nicht gelungen, die Armut in dem reichen Land erheblich zu senken. Die Universidad Católica Argentina, die das Problem auf Basis eigener Erhebungen untersucht, hat im Vorjahr 28 Prozent aller Argentinier als arm gewertet. Die meisten werden vom Staat mit einem oder mehreren der „planes sociales“ sediert: Kinderbeihilfen, Krankengelder, Stützen und Kleinbeträgen. Sie sind jenes Wählerreservoir, das Kirchners Kandidat, Daniel Scioli, über 40 Prozent einbringen soll. Doch selbst, wenn das gelingen sollte, stehen die Chancen für eine Novela-Fortsetzung nicht gut. Dem Vernehmen nach verhandeln Sciolis Emissäre in New York mit den „Geiern“. Scioli, Millionär und Marktwirtschaftler, wäre genau der Nachfolger, den Kirchner nie aufbauen wollte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2015)

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