Die Apotheke im Abwasser

Auf einem L�ffel liegen Tabletten
Auf einem L�ffel liegen Tabletten(c) Erwin Wodicka - BilderBox.com (Erwin Wodicka - BilderBox.com)
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Was in den Körper hineingeht, geht auch wieder hinaus, Medikamente etwa. Was sie in der Umwelt anrichten, interessierte lange niemanden.

Diclofenac, Metformin, Oxazepam, das sind drei von hunderten Wirkstoffen, die zur Grundausstattung jeder Apotheke gehören und weltweit täglich von Millionen eingenommen werden, Metformin etwa ist das am häufigsten bei Diabetes verschriebene Medikament. Und was eingenommen wird, wird auch wieder ausgeschieden – oft unverändert, so ist das etwa bei Metformin –, das versteht sich von selbst. Es beunruhigte nur niemanden, bis in den 1960er-Jahren in den USA in Vorflutern – Gewässern gleich unterhalb von Kläranlagen – etwas auffiel: Östrogene aus der Antibabypille. Deren Folgen zeigten sich Ende der 1970er in London, bald auch in Berlin: Männliche Fische verweiblichten – sie produzierten Vitellogenin, die Vorstufe von Eidotter. Ihren Artgenossen in Lissabon blieb das Schicksal erspart, im katholischen Portugal war die Pille tabu.

Sie wurde und wird auch anderswo kaum genommen – in Japan etwa von nur 0,4 Prozent der gebärfähigen Frauen –, und doch wurden allerorten männliche Fische Hermaphroditen. Der Spuk zog sich bis in menschenleere Regionen hinein und die Nahrungskette hinauf, bis zu Eisbären mit verkümmerten Hoden/Penissen. Dafür sorgte eine breite Palette von Produkten der chemischen Industrie, die keine Sexualhormone sind, aber so wirken: „endokrine Disruptoren“ vulgo Umwelthormone. Bemerkt hatte man das Problem in den 1950er-Jahren – beim Insektizid DDT, es feminisierte Männchen von Seevögeln –, dann geriet es in Vergessenheit.

In den 90er-Jahren kehrte es wieder, Substanzen sonder Zahl kamen in Verdacht: BPA (Bisphenol A), PCBs (polychlorierte Biphenyle), Phthalate und andere Akronyme und Unaussprechliche für unterschiedlichste Zwecke. Sie beschichten Thermopapier von Kassenzetteln und Innenwände von Konservendosen (BPA), sind in Kondensatoren-Öl (PCBs), machen PVC weich (Phtalate). Die Liste blähte sich rasch zur Unüberschaubarkeit, und eben hat David Skelly (Yale) noch etwas höchst Mysteriöses bemerkt: Frösche verweiblichen in Nordamerika überall dort, wo sich Suburbs in die Natur hineinfressen. Das liegt nicht an Pestiziden – viele sind Disruptoren –, es liegt an der veränderten Landnutzung, irgendwie, die Details sind unklar (Pnas 112, S. 1181).

Aber die Arbeit Skellys ist ein kaum vernehmbarer Nachhall: Um die Jahrtausendwende brach der Disruptoren-Hype in sich zusammen, andere Chemikalien zogen die Aufmerksamkeit auf sich: Antibiotika, vor allem aus der Agrikultur, sie kontaminieren Gewässer großflächig. Auch das hatte früher schon Sorgen geweckt, es folgt ebenso rätselhaften Moden, geriet wieder aus dem Fokus – aus der Welt natürlich nicht.


Als die Geier vom Himmel fielen. Aber andere Umweltsorgen drängten sich vor, vor allem die der Erwärmung, und bei der Umweltverschmutzung durch Chemie kam langsam eine dritte Gruppe ins Visier: die der ganz normalen Medikamente, etwa die eingangs genannten. Diclofenac hilft bei Schmerzen und Entzündungen, es wird auch in der Veterinärmedizin eingesetzt, breit, hoch dosiert, und dort zeigte es drastisch, was Medikamente in der Umwelt anrichten können: In den 90er-Jahren fielen in Indien und Pakistan Geier tot vom Himmel, zu Millionen, bis zu 95 Prozent der Populationen. Früher von ihnen entsorgte Tierkadaver blieben liegen, sie zogen andere Fresser an, verwilderte Hunde. Die holten sich Krankheiten und verbreiteten sie unter Menschen.

So traf das Geiersterben viele am Leib, andere gar an der Seele: alle die, die ihre Toten den Geiern überlassen. Das tun etwa die Parsen, die der Lehre Zoroasters folgen. 80.000 von ihnen gibt es, vor allem in Indien – Zubin Mehta etwa gehört dazu. Mitten in Mumbai stehen fünf „Türme des Schweigens“, dort wurden die Toten abgelegt und von Geiern abgeholt. Nun taten sie es nicht mehr, manche Parsen entschieden sich trotz religiösen Tabus für eine Feuerbestattung, andere bauten Geierzuchten auf.

Forscher suchten erst nach Krankheitserregern, dann nach Umweltgiften. Fündig wurde sie endlich bei Kadavern von Nutztieren, die vor dem Tod mit Diclofenac behandelt worden waren. Geiern, die da hineinhackten, geriet das Heilmittel zum Unheil, es ließ ihre Nieren versagen (Nature 427, S. 630).

Derart ins Übel schlagen Medikamente selten um, manche wirken auch in der Natur so, wie sie es bei Menschen tun. Das gilt etwa für Oxazepam. Es ist ein Angstlöser, und in so hohen Dosen in so vielen Gewässern enthalten, dass der schwedische Umwelttoxikologe Thomas Brodin (Umea) fürchtete, in Flüssen seines Landes könnten Barsche Schaden nehmen: ihr Verhalten ändern, sie unvorsichtig werden lassen. Aber sie werden nur wagemutiger und machen mehr Beute (Science 339, S. 884).

Für die Barsche war das eine gute Nachricht, für ihre Beute nicht – für die Ökosysteme auch nicht. Und bei einem anderen Angstlöser – Fluotexin (Prozac) – litten auch die Jäger, in diesem Fall Stare, die Würmer aus Klärschlamm holen: Sie vernachlässigten das Fressen, Fluotexin dämpft den Appetit (Phil. Trans. Roy. Soc. B. 369: 20130575). Und der Dritte im Bunde der eingangs Erwähnten, Metformin, das 2014 allein in den USA 76,9 Millionen Mal verschrieben wurde? Es ist überall, Klaus Kümmerer (Lüneburg) hat es in allen deutschen Gewässern gefunden, sogar die Nordsee ist zum Verdünnen nicht groß genug (Environment International 70, S. 203). Und Rebecca Klaper (University of Wisconsin) hat gezeigt, dass es auch ein endokriner Disruptor ist: Es verweiblicht Fischmännchen (Chemosphere 135, S. 38).

Was in Oberflächengewässern ist, ist bald im Trinkwasser, Grenzwerte für Medikamente gibt es nicht, nirgends, ein Anlauf der EU wurde 2012 abgeblockt, durch aggressives Lobbying von Pharma- und Wasserindustrie (Nature 526, S. 164). Immerhin, zu einer Aktivität hat die internationale Gemeinschaft sich aufgerafft: Medikamente kommen nicht nur mit Urin ins Abwasser, viele werden auch dorthin entsorgt – wohin mit alten Pillen und Tropfen? Ins Klo! –, andere fließen direkt aus der Quelle, aus der Pharmaindustrie. Dem ganzen Mix soll Aufmerksamkeit zuteilwerden, das beschloss im Oktober die International Conference on Chemicals Management (ICCM), und ganz machtlos ist die nicht: Bis 2020 soll nichts mehr im Wasser sein, was Menschen und/oder der Umwelt schadet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2015)

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