EU-Erweiterung: Neustart für türkische Verhandlungen

EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn.
EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn.(c) Reuters (Eric Vidal)
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Erweiterungskommissar Hahn stellt Ankara trotz Kritik an rechtsstaatlichen Rückschritten eine Wiederbelebung der Beitrittsgespräche in Aussicht.

Brüssel. Lange war der kritische Fortschrittsbericht der EU-Kommission zur Türkei zurückgehalten worden. Am Donnerstag wurden die bitteren Vorwürfe eines Rückschritts in der Rechtsstaatlichkeit und demokratiepolitischer Fehlentwicklungen in einem süßen Gebäck mit dem Namen „Beitrittsverhandlungen“ präsentiert. EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn wies darauf hin, dass die Bewertung der Beitrittsreife der Türkei weiterhin den Grundsätzen der Union entspreche. Es werde wegen der Flüchtlingssituation keine Sonderregeln geben. Hahn ließ keinen Zweifel an Fehlentwicklungen unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, kündigte aber gleichzeitig die Wiederbelebung der seit Jahren auf Eis gelegten Verhandlungen an.

Die EU-Kommission versucht damit, eine goldene Brücke im schwierigen Verhältnis zu Ankara zu bauen. Denn in der Bewältigung der Flüchtlingskrise sind die EU-Staaten auf eine Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung angewiesen. Die Veröffentlichung des großteils negativen Fortschrittsberichts, der jährlich die Lage aller Beitrittskandidaten bewertet, war von Woche zu Woche aufgeschoben worden. Er hätte eigentlich bereits vor den türkischen Wahlen am 1. November vorgelegt werden sollen.

Hahn kündigte nun „Vorbereitungen auf eine mögliche Öffnung der Verhandlungskapitel 23 und 24 an“. Sie betreffen „Justiz und Grundrechte“ sowie „Sicherheit, Freiheit und Recht“. Es sind jene Bereiche, in denen der Fortschrittsbericht Rückschritte offengelegt hat. Der für die Erweiterung zuständige Kommissar sprach denn auch von einem Lackmustest für Ankara. „Beitrittsverhandlungen sind hier der beste Hebel, um die Dinge zu verändern“, so Hahn. Zusätzliche Dynamik könnten die Gespräche erhalten, wenn sich Ankara zu einem Durchbruch bei der Lösung des Zypern-Konflikts durchringen könnte. Auch der luxemburgische Außenminister, Jean Asselborn, sprach sich als Vertreter des EU-Vorsitzlandes für eine Rückkehr an den Verhandlungstisch aus. Der Wiederbelebung der Beitrittsverhandlungen müssen allerdings noch alle Mitgliedstaaten zustimmen.

Die türkische Regierung reagierte trotz dieser Ankündigung verärgert. Einige Feststellungen in dem vorgelegten Fortschrittsbericht der EU seien „ungerecht und unangemessen“, erklärte das EU-Ministerium in Ankara.

Hauptkritikpunkte sind eine Verlangsamung von politischen Reformen und Rückschläge bei Demokratie und Menschenrechten. „Der Bericht unterstreicht den generell negativen Trend in Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte“, fasst die EU-Kommission das Ergebnis zusammen. „Ernste Bedenken“ werden bezüglich der Unabhängigkeit der Justiz geäußert, die in den vergangenen Jahren immer öfter im Auftrag der Politik agiert habe. Aufgrund dieser Entwicklung sei auch die Machtbalance im Staat aus dem Gleichgewicht geraten.

Einschränkungen gibt es laut dem Bericht außerdem bei der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Insbesondere werden Versuche der Regierung angeführt, freie Berichterstattung in Medien und im Internet durch Zensur zu unterbinden. „Anhaltende neue Strafverfolgungen gegen Journalisten, Autoren oder Nutzer sozialer Medien, die Einschüchterung von Journalisten und Medien sowie die Aktionen der Behörden zur Einschränkung der Medienfreiheit sind Grund für ernste Besorgnis“, heißt es.

Rückkehr zu Frieden mit Kurden

Darüber hinaus wird die türkische Führung für ihre Abkehr vom Friedensprozess mit der kurdischen Minderheit kritisiert. Es sei wichtig, fordern die EU-Experten, dass die Friedensgespräche wieder aufgenommen werden. Auch auf die Lage der rund zwei Millionen im Land befindlichen Flüchtlinge geht der Fortschrittsbericht ein. Ausdrücklich werden die „bemerkenswerten Anstrengungen“ bei der Aufnahme von syrischen Flüchtlingen betont. Kritik übt der Bericht aber am mangelnden Grenzschutz und an Problemen bei der Integration der Schutzbedürftigen.

Noch am gestrigen Dienstag reiste EU-Erweiterungskommissar Hahn gemeinsam mit dem Vizepräsidenten der Kommission, Frans Timmermans, nach Ankara. In den Gesprächen mit der türkischen Führung soll es um die Umsetzung eines Aktionsplans zur gemeinsamen Bewältigung der Flüchtlingskrise gehen. Die Türkei ist zwar grundsätzlich zu einer Zusammenarbeit bereit, erwartet aber hohe Hilfszahlungen der EU und Fortschritte bei der Visafreiheit für türkische Staatsbürger. (wb/ag.)

AUF EINEN BLICK

Fortschrittsbericht. Verspätet hat die EU-Kommission den diesjährigen Fortschrittsbericht zur Türkei vorgelegt. Er enthält deutliche Kritik am Justizsystem des Landes und an der Unterdrückung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Darüber hinaus wird auf Rückschritte im Friedensprozess mit der kurdischen Minderheit verwiesen. Die türkische Regierung reagierte verärgert. Der Bericht sei in mehreren Passagen „ungerecht“ und „unangemessen“. EU-Erweiterungskommissar Hahn reiste noch am Dienstag nach Ankara.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.11.2015)

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