Die S-Kartei: Attentäter waren der Polizei bekannt

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Frankreichs Behörden haben 10.000 Radikale in einer Datenbank erfasst. Warum waren sie dennoch nicht fähig, die Terroristen in Paris aufzuhalten?

Paris. Es ist nicht zu leugnen, dass die Terrorabwehr in Frankreich versagt hat. Zwar werden große Mittel eingesetzt und bereits seit Jahren laufend die Überwachungsmaßnahmen verschärft, dennoch sind immer wieder Terroristen durch dieses Netz geschlüpft. Mehrere oder sogar die Mehrheit der islamistischen Attentäter der letzten Zeit, von Mohammed Merah (Toulouse 2012) über Mehdi Nemmouche (Brüssel 2014), die Kouachi-Brüder („Charlie Hebdo“ 2015) und Amédy Coulibaly (HyperCasher 2015) bis zu den inzwischen identifizierten Terroristen von Paris, waren der Polizei und den für die Staatssicherheit zuständigen Justizbehörden bekannt. Sie waren in einer speziellen Kartei mit dem Buchstaben S, für surveillance (Überwachung) erfasst, weil sie aufgrund nachrichtendienstlicher Informationen eine Gefahr für Staat und Gesellschaft darstellen könnten.

Die Definition im Konditionalis stellt bereits ein Problem dar und verdeutlicht das Dilemma der Behörden, die den Terrorismus präventiv bekämpfen sollen. Solange es sich nur um eine radikale Gesinnung handelt, sind den Sicherheitskräften die Hände gebunden. Wie Innenminister Bernard Cazeneuve erklärte, kann die Justiz nur einschreiten, wenn die Gegner des Rechtsstaats straffällig werden oder ihnen wenigstens die konkrete Vorbereitung eines Verbrechens angelastet werden kann.

Die Schwierigkeit der Kontrolle besteht auch in der Menge der Angaben und der Zahl der zu überwachenden Personen. Mit einem S sind angeblich gegenwärtig mehr als 10.000 in Frankreich lebende Personen erfasst. Dabei handelt es sich nicht nur um radikale Islamisten; es stehen auch andere Radikale in dieser Datei, so zum Beispiel gewalttätige Anarchisten oder Hooligans. Die Opposition fordert darum eine effektive Überwachung. Der zweite Vorwurf an die bisherige Sicherheitspolitik geht an die Justiz. Wie kommt es, dass einer der identifizierten Pariser Terroristen im Bataclan, Ismael Omar M., acht Mal wegen verschiedener Delikte verurteilt worden war, aber deswegen nie im Gefängnis saß? Der dritte Punkt betrifft den Waffengebrauch und die Ausrüstung der Polizisten. Diese durften bisher, im Unterschied zu den Angehörigen der Gendarmerie, nur in Notwehr, zum Schutz des eigenen Lebens oder gefährdeter Personen von ihrer Pistole Gebrauch machen. Das will Cazeneuve nun ändern.

François Hollande und seine Regierung stehen unter extrem starkem Druck. Sie werden wohl zu Mitteln greifen müssen, die sie vorher mit dem empörten Hinweis auf die Rücksicht auf Bürgerrechte und die Privatsphäre vermeiden wollten. Schon die kürzliche Verschärfung der massiven Überwachung der Telefon- und Internetkommunikation im Namen der Terrorismusbekämpfung wurde von Gegnern mit dem Patriot Act in den USA nach dem 11.September 2001 verglichen. Ihnen ist vor allem die weitreichende, unkontrollierbare Speicherung von Kommunikationsdaten bei den Providern mit einer Art Blackbox (einem sogenannten IMSI-Catcher) ein Dorn im Auge. Schon das reicht heute nicht mehr. Zumindest konnten diese Zusatzkontrollen in keiner Weise die Vorbereitung der Pariser Attentate verhindern.

Sarkozy fordert Fußfesseln

Vor allem aus den Reihen der Opposition kommen Forderungen. Der konservative Bürgermeister von Nizza, Christian Estrosi, sprach Klartext: „Wir müssen akzeptieren, dass gewisse Freiheiten eingeschränkt werden. Die Franzosen brauchen nicht Emotionen, sie wollen Aktionen.“ Sein Parteikollege Laurent Wauquiez fordert die Internierung von radikalisierten Islamisten, Nicolas Sarkozy möchte sich auf eine Überwachung mit elektronischen Fußfesseln beschränken. Aber auch Premierminister Valls selbst geht in diese Richtung, er will vermehrt verurteilten Terroristen die französische Nationalität entziehen und droht mit der Schließung von Moscheen, in denen Hassprediger auftreten.

Derzeit gilt ein auf zwölf Tage begrenzter Ausnahmezustand, der den Behörden Hausdurchsuchungen ohne Richterbefehl und die Einschränkung bürgerlicher Freiheiten erlaubt. Er könnte um drei Monate verlängert werden. Es gibt die französische fatalistische Redensart „à la guerre comme à la guerre“: Wenn schon Krieg, dann richtig Krieg. (r.b.)

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2015)

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