Ohne Grenzen gibt es keine Identität

Zeit der Ernüchterung. Wo ist die Grenze von Integration, und wo beginnt Assimilation? Ein wenig optimistischer Ausblick auf 2016.

An der Wende zu einem neuen Jahr sucht man gern Gründe für einen hoffnungsvollen Ausblick. Chefredakteure bitten häufig befreundete Autoren, zu diesem Anlass etwas zu schreiben, „aber es muss Zuversicht ausstrahlen“.

Das ist sehr verständlich, denn die Zeitungen möchten nicht immer nur die Überbringer schlechter Nachrichten sein und wenigstens einmal im Jahr ein freundliches Gesicht zeigen. „Die Presse“ hat am 19. Dezember sogar eine ganze Nummer nur mit Aussichten auf allen Gebieten gefüllt. Das war sicher zur Freude der Leser.

In der Migrations- und Flüchtlingsbewegung gibt es allerdings keinen Grund zu einer positiven Perspektive. Es ist Ernüchterung eingekehrt: Die „refugees welcome“-Transparente sind längst eingerollt, die Euphorie über den eigenen Idealismus in der Flüchtlingsbetreuung ist verflogen, verstummt sind Sprüche wie „niemand ist illegal“. Nun herrscht die Mühsal des Alltags der Völkerwanderung, in dem es nur noch darum zu gehen scheint, die Migrantenströme zu kanalisieren, die Durchreise zu organisieren und Quartiere für die Asylwerber zu finden.

Der anfängliche Enthusiasmus einer fast bewusstlosen Hilfsbereitschaft ist dem beklemmenden Gefühl gewichen, dass man an Entwicklungen beteiligt ist, von denen niemand weiß, wohin sie führen sollen. Ein für seinen progressiv-katholischen Standpunkt bekannter Kommentator gesteht ein, dass er von seiner bisherigen „Wahrheit“ Abschied nehmen müsse und nun „mehr und mehr zu verstehen“ beginne, dass „unkontrollierter Ein- oder Durchmarsch angesichts der Ausmaße des Problems nicht länger sein kann“.

Der Journalist ist ein prominentes, aber seltenes Beispiel einerEinsicht, die in der Bevölkerung viel weiter verbreitet sein dürfte, als in den Medien wahrzunehmen ist, die mehrheitlich weiter die Durchhalteparolen ausgeben. Die Gelassenheit und Zuversicht der Bevölkerung noch im Sommer ist längst in Sorge und Angst umgeschlagen.

Diese Angst wird von Politikern und vor allem von Kirchenvertretern aber verächtlich gemacht. Sie beteuern zwar unentwegt, wie sehr sie „Verständnis für die Sorgen der Menschen“ hätten, erklären ihnen aber zugleich herablassend, sie müssten begreifen lernen, welche Bereicherung die Immigration für die Gesellschaft bedeute. Wer das nicht so sehen will und sich Sorge um die kulturelle Identität Europas mache, verstehe eben nicht, dass sich die Welt ständig verändere.

Der öffentliche Diskurs über die Migration wird von der Linken beherrscht, die damit wieder einmal beweist, dass sie viel schneller und entschlossener dabei ist, die semantischen Werkzeuge zur Deutung öffentlicher Vorgänge zu prägen. Jeder, der kommt, ist ein „Flüchtling“ undverdient daher Asyl. Die Unterscheidung von Flüchtlingen und Armutsmigranten gilt als politisch nicht korrekt, und wer sie trifft daher als unanständig. „Keine Zäune in Europa. Zäune sind keine Lösung“, lautet eine weitere suggestive Parole, die auch gern von kirchlichen Oberen verwendet wird.

Die Flucht als Abenteuer

Die Migranten gehen nicht nach China oder in die arabischen Staaten, sondern sie kommen nach Europa. Sie seien eben von den „Idealen“ des Westens angezogen, von Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit, Demokratie und Freiheit, lautet die europäische Erklärung dafür. „Es spricht für unseren Staat, und unsere Gesellschaft“, schrieb die Deutsche Bischofskonferenz im September in einer Erklärung, „dass Menschen bei uns Zuflucht suchen“.

Das ist schön gesagt, verdrängt aber geflissentlich, dass die Menschen in Europa mit einer materiellen Versorgung wie sonst nirgends rechnen können und dass sie geradezu eingeladen wurden. Jedenfalls, in das reiche Saudiarabien kommen sie einfach deshalb nicht, weil sie dort nicht hindürfen. Dieser Staat nimmt kaum Flüchtlinge auf, hat sich aber erbötig gemacht, allein in Deutschland 200 Moscheen zu bauen.

Aus einer syrischen Perspektive stellt sich das ganz anders dar. Der griechisch-katholische (melkitische) Patriarch Gregorios III. aus Damaskus sagte auf der theologischen Hochschule St. Georgen der Jesuiten in Frankfurt, die Bereitschaft der Bundesrepublik, Kriegsflüchtlinge aufzunehmen, sei in seiner Heimat so verstanden worden, „dass Deutschland soundsoviele Leute haben will“. Er sei zwar „froh über die Aufnahme, aber traurig über die Einladung“. Die Ausreisewelle nannte er eine „Epidemie“, für manche junge Leute sei eine „Flucht“ nach Europa auch ein „Abenteuer“.

Außer Kraft gesetzte Regeln

Schon durch die Umstände ihrer Ankunft in Europa erfahren die Immigranten, dass die europäischen Staaten für sie ihre eigenen Regeln außer Kraft setzen und vor ihrer schieren Übermacht kapitulieren. Vor allem stellen sie fest, dass die meisten europäischen Staaten nicht bereit oder fähig sind, ihre Grenzen zu sichern. Die Migranten können sich das Land aussuchen, in das sie kommen wollen, und dürfen weiterhin einreisen, ohne wirklich kontrolliert zu werden.

„2015 hat wieder einmal gezeigt, dass Menschenrechte und Staatsgrenzen nicht zueinander passen“, schrieb der Präsident des Österreichischen Roten Kreuzes, ein Universitätsprofessor und ehemaliger ÖVP-Politiker in seinem Weihnachtsrundbrief. Darauf kann man nur mit Michael Häupl sagen, dass auch Zeiten der Migration offenbar Zeiten „fokussierter Unintelligenz“ sind. Er begreift nicht, dass „Grenze für jedes gesellschaftliche Gebilde eine Notwendigkeit ist, denn durch Abgrenzung geschieht auch Identifizierung“, wie es Giampietro Dal Toso, Sekretär des Päpstlichen Rates Cor unum, vor Kurzem bei einem Symposion in St. Christoph am Arlberg sagte: „Ohne Determinierung kann ich nicht einmal Ich sagen. Territorial gesehen braucht jeder Staat eine Grenze, um überhaupt festzulegen, für wen er da ist.“

Als Integrationsminister Sebastian Kurz ein 50-Punkte-Programm vorstellte, mit dessen Hilfe die Integration neuer Zuwanderer besser gelingen soll, beteuerte der Vorsitzende des Integrationsexpertenrats mitEmphase, Integration dürfe nicht „kulturelle Assimilation“ bedeuten. Das ist eine wohlfeile Formel, aber was soll sie eigentlich bedeuten? Bis wohin reicht Integration? Und ab wann ist der Prozess der Anpassung an die österreichische Lebenswirklichkeit schon – angeblich illegitime – Assimilation?

Verpflichtung zu Werten

Zu den 50 Punkten gehört auch eine Verpflichtung der Immigranten zu den westlichen und damit österreichischen Werten. Namentlich werden genannt: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, gesellschaftlicher und politischer Pluralismus, der Katalog der Menschenrechte, besonders Religionsfreiheit (nicht nur die eigene, sondern auch die der anderen) und die Gleichstellung von Mann und Frau.

Zu meinen, man könne zwar die Akzeptanz dieser Werte einfordern, dürfe dabei aber keine „kulturelle Assimilation“ betreiben, ist ein Missverständnis. Die moderne westliche Demokratie, und die mit ihr verbundenen „Werte“, beruht auf einem kulturellen Vorverständnis, das sie selbst nicht schaffen und ohne das sie auch nicht verstanden werden kann.

debatte@diepresse.com

DER AUTOR

Hans Winkler war langjähriger Leiter der Wiener Redaktion der „Kleinen Zeitung“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.12.2015)

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