Guten Abend, gute Nacht: Das Kind schläft nicht

Hannah wachte als Baby ein- bis zweimal pro Nacht auf, ihre Mutter litt sehr unter dem Schlafmangel.
Hannah wachte als Baby ein- bis zweimal pro Nacht auf, ihre Mutter litt sehr unter dem Schlafmangel.Die Presse
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Endlose Nachtfahrten mit dem Auto, tägliches In-den-Schlaf-Wippen vor der Waschmaschine. Kinder, die nicht ein- oder durchschlafen, sind oft weniger für sich selbst als für die Eltern ein Problem.

Das Drama begann, als ihre Tochter neun Monate alt wurde. Mit dem Stillen hatte sie aufgehört, und die Zeit des Fläschchengebens begann. Die Tochter sollte im eigenen Bett schlafen, doch nichts gestaltete sich, wie die Mutter sich das vorgestellt hatte. Die Tochter wollte einfach nicht durchschlafen. Was Romana Hollerer anfangs noch als Umgewöhnungsphase wertete, entwickelte sich zum handfesten Problem. Zuerst brauchte Töchterchen Hannah einige Zeit, um einzuschlafen. Dafür musste Hollerer sich neben sie legen oder ihr die Hand halten. Das allein wäre ja noch kein Problem gewesen, doch die Tochter wachte noch ein- bis zweimal pro Nacht auf. Einmal brauchte sie ein Fläschchen, um wieder einzuschlafen, ein anderes Mal nur die Mutter, um beruhigt zu werden. „Man hält ja einiges aus, aber irgendwann wird es schwierig“, kommentiert Hollerer trocken, wie sich ihr Familienleben vor vier Jahren gestaltet hat.

Denn während die Tochter wieder einschlief, nachdem sie zu ihr geeilt war, machte die Mutter selbst kein Auge mehr zu. „Ich bin zum Teil um drei Uhr in der Früh aufgestanden und habe Zetteln geschrieben und Dinge erledigt“ - obwohl sie selbst mindestens sieben bis achten Stunden Schlaf in der Nacht brauche.

Die Folgen des Schlafmangels waren zuerst in ihrem Gesicht zu sehen und wenig später in ihrem ganzen Leben zu spüren. „Man wird ungeduldig, grantig und streitsüchtig“, sagt sie. Die Beziehung zu ihrem Ehemann litt, die zu ihren Mitmenschen sowieso. Die Augenringe gruben sich jeden Tag tiefer ein, auch die Unmengen an Kaffee, die sie trank, halfen nicht wirklich gegen die Müdigkeit. Dafür war Hollerer wesentlich öfter krank. „Schlafentzug ist nicht umsonst Folter“, sagt sie heute. Trotzdem hielt sie eineinhalb Jahre diesen Zustand aus.

Gehört Schlafentzug dazu? Kinder, die nicht schlafen wollen, sind keine Seltenheit und trotzdem geben Eltern nicht gern zu, dass sie damit ein Problem haben. Schlaflose Nächte, das lernen sogar Nichteltern lang vor der Familienplanung, gehören zum Kinderkriegen wie Musik zu einer Party.

Dass der Schlafentzug Eltern zum Teil an den Rand des Wahnsinns treibt und sie vor allem zeitweise jeden guten Gedanken über ihr Kind vergessen lässt, hat 2011 der amerikanische Literaturprofessor und Schriftsteller Adam Mansbach gezeigt, der sich mit seinem Buch „Go the Fuck to Sleep“ den Frust über die Einschlafprobleme seiner Tochter von der Seele geschrieben hat– und deshalb Applaus von geschafften Eltern auf der ganzen Welt erhalten hat.

Dabei ist Hilfe dringend nötig. Wir verbringen ein Drittel unseres Lebens schlafend. Ist unser Schlaf gestört, werden wir (egal, ob wir Kinder haben oder nicht) krank. Kein Wunder also, dass sich Schlafratgeber für Kinder millionenfach verkaufen – auch wenn sie oft umstritten sind. Im Sommer 2015 gelang dem Schweden Carl-Johan Forssén Ehrlin mit dem Buch „Das Kaninchen, das so gerne einschlafen will“ gleich ein internationaler Verkaufshit – für den er ebenso viel Kritik einstecken musste. Forssén Ehrlin schaffte mit dem Buch eine Gute-Nacht-Geschichte, die wie eine Anleitung zur Kinderhypnose klingt. Auf jeder Seite finden sich Sätze wie „Mit dieser Geschichte wirst du einschlafen. Jetzt gleich“, „Schlaf jetzt“ oder „Atme langsam und ruhig, langsam und ruhig“ in die Geschichte eingewoben. Forssén Ehrlin schreibt im Vorwort, er habe „psychologische Techniken“ für das Buch verwendet. Er selbst ist NLP-Trainer. Erboste Eltern warfen ihm daraufhin die Manipulation von Kindern vor. Andere schwören wieder darauf. Forssén Ehrlin arbeitet bereits am nächsten Buch.

Erschöpfte Eltern. „Ich verwehre mich gegen Ratgeber“, sagt dazu Ärztin Katharina Kruppa, die die Babycare-Ambulanz im Preyer'schen Kinderspital leitet. Zu Kruppa kommen die Eltern, die nicht mehr weiterwissen, und das „meist eher spät, wenn sie schon ziemlich erschöpft sind“. Die Kinder, die sie hier behandelt, sind oft um die acht Monate alt oder am Anfang des zweiten Lebensjahres. Wobei es bei ihren Patienten in vielen Fällen eher „darum geht, dass die Eltern nicht schlafen können, weil sie so oft aufgeweckt werden“, sagt sie.

In ihren zehn Jahren auf der Babycare-Ambulanz hat Kruppa Mütter kennengelernt, deren Kinder nur vor der laufenden Waschmaschine eingeschlafen sind, und Väter, die stundenlang in der Nacht mit dem Nachwuchs im Auto durch die Stadt gefahren sind.

Mit Neid schauen diese Eltern dann auf andere, die keine Schlafprobleme haben. Oft muss Kruppa daher zuerst einmal mit Vorurteilen aufräumen. „Dass Kinder durchschlafen, ist ein Gerücht. Fast jedes Kind wacht in der Nacht auf. Aber es wecken nicht alle Kinder ihre Eltern auf“, erklärt sie. Daher sei das Ziel in der Babycare-Ambulanz nie das Durchschlafen, sondern die Frage, wie das Kind das Wiedereinschlafen lernen kann.

Dafür gibt es gleich mehrere Grundsätze, die zu beachten sind. Einer davon: Das Kind ist selbst für den Schlaf verantwortlich. „Wenn jemand sagt, das Kind kann das nicht, dann hinterfrage ich das. Es kann ja sein, dass es einfach noch nicht auf die Idee gekommen ist. Und es gilt, das Kind mit aller Gelassenheit dorthinzubegleiten.“ So sei es die Sache der Eltern, den Rahmen für den Schlaf des Kindes zu bieten. „Aber wie lang es bis zum Einschlafen braucht, ist die Sache des Kindes“, erklärt sie. Das heißt, wenn Kinder sich etwa eine halbe Stunde im Bett herumwälzen, bevor sie in den Schlaf fallen, dann ist das völlig in Ordnung. Wichtig ist, dass die Eltern in dieser Zeit das Kind nicht beobachten, sondern die Zeit für sich nutzen, etwa lesen. Eingreifen sollten Eltern erst, wenn das Kind nach ihnen verlangt. Dann gilt es aber, Trösten und Einschlafen zu trennen. „Wenn ein Kind weint, soll man es selbstverständlich trösten, dann aber wieder hinlegen“, sagt Kruppa. Unbedingt trennen sollte man auch Schlafen und Füttern. „Weil sonst das Kind zu jedem Einschlafen Essen erwartet.“ Dem Kind soll so Sicherheit und die Klarheit, dass es jetzt schlafen soll, gegeben werden. Und die Eltern können beruhigt das Kind auch einmal im Bett vor sich hin blubbern und brabbeln lassen.

Was in der Theorie so einfach klingt, ist in der Praxis aber trotzdem nicht leicht umgesetzt. Romana Hollerer erinnert sich, jedes Mal „sofort aufgesprungen zu sein“, wenn die Tochter im Nebenzimmer nur einen Laut von sich gab. „Man wacht als Mutter eben leicht auf und schaut nach, was ist. Es klingt auch alles immer so laut, wenn es still in der Nacht ist“, sagt sie.

Gemeinsames Bett oder nicht? Das Kind zu sich ins Bett zu holen war für sie und ihren Mann übrigens nie eine Option. „Ich brauche im Bett einfach meinen Platz.“ Die eineinhalb Jahre Schlafverlust haben ihr Mann und sie irgendwie als gottgegeben hingenommen, sich von Hoffnung zu Hoffnung gehangelt. „Wenn unsere Tochter doch wieder eine Nacht durchgeschlafen hat, haben wir uns gedacht: Jetzt hat sie es. In der Nacht darauf hat es dann freilich nicht mehr funktioniert“, erzählt sie.

Zunehmend nagten damals auch die Schuldgefühle an Hollerer. Die Wienerin, die mit 38 Jahren zum ersten Mal Mutter geworden ist, zweifelte plötzlich an sich selbst: „Ich habe in der Arbeit Umsatzverantwortung gehabt, wichtige Entscheidungen getroffen, und jetzt bekomme ich das nicht hin“, dachte sie sich. Dabei ist Hollerer zu der Zeit noch in Karenz, ihr Mann beruflich allerdings viel unterwegs. „Ich habe mich damals oft gefragt, wie arbeitende Mütter das schaffen“, sagt sie.

Mit den Freundinnen tauscht sie sich in der Zeit wenig aus. Einige hatten die gleichen Probleme, andere setzten auf den alt bekannten Bestseller „Jedes Kind kann schlafen lernen“, wo nach der amerikanischen Ferber-Methode das Kind zum Schlafen gebracht werden soll. Dafür müssen die Eltern das Kind für eine bestimmte Zeit auch allein im Bett schreien lassen, bis sich das Kind an das Alleinsein gewöhnt hat. Viele Eltern lehnen diese Methode ab. Ebenso Hollerer. Auch die eigene Mutter hatte keinen Rat für sie. „Ihr habt friedlich durchgeschlafen“, sagte sie. Hollerer glaubt das bis heute nicht, „aber das ist halt wie der Geburtsschmerz, den man vergisst“.

Ärztin Katharina Kruppa sieht auch den Gruppendruck, den gerade junge Mütter unbeabsichtigt zwischen einander aufbauen können, als kritisch. „Schläft deines schon durch?“, ist eine oft gestellte Frage zwischen Müttern. „Dann sagt die eine Ja und erlebt es auch so, aber wenn man nachfragt, dann stellt sich heraus, dass das Kind alle zwei Stunden aufwacht, aber eben auch wieder einschläft“, sagt sie.

Kinder müssen schlafen lernen. Viele Kinder hätten gerade am Anfang Schlafregulierungsstörungen. Auch sei jedes Kind individuell. Was bei dem einen funktioniert, geht bei den anderen nicht. „Und es gibt eben Kinder, die in 24 Stunden nicht mehr Schlaf als acht bis zehn Stunden brauchen.“ Einschlaf- und Durchschlafprobleme bei Kindern habe es grundsätzlich schon immer gegeben. Hilfreich könne übrigens die Cranio-Sacral-Therapie sein, oder – ganz einfach – sich die Nächte zu teilen. Einmal steht der Vater auf, einmal die Mutter. Schwierig ist das freilich, wenn jemand das Kind allein erzieht und auch kein Netzwerk wie Freunde und Familie hat. Auch mit dem Co-Sleeping, dem Schlafen in einem Familienbett, hat Kruppa kein Problem. „Wenn alle schlafen, warum nicht?“, meint sie. Nur wenn niemand zur Ruhe findet, sei es keine Option.

Warum lehne sie dann die anfangs erwähnten gängigen Schlafratgeber ab? Auch die Ferber-Methode? „Kinder brauchen ein sicheres Gefühl zum Einschlafen. Und das ist das Problem bei all den Ratgebern. Dass man die Eltern instrumentalisiert, die Kinder allein zu lassen. Wobei die Idee, den Kindern die Verantwortung für das Schlafen zu geben, schon stimmt.“

Romana Hollerer und ihr Mann haben schlussendlich einen ganz anderen Weg gewählt. Als das zweite Kind, ein Bub, vor drei Jahren auf die Welt kam, besuchte sie den Schlafberatungsworkshop einer Wienerin, die selbst von dem Thema betroffen war (siehe Artikel). Seither schlafen ihre beiden Kinder zwölf Stunden die Nacht durch. Die Erinnerungen an die Probleme sind in ihrer Familie längst verblasst. Hollerer arbeitet wieder, die ganze Familie hat mehr Kraft: „Es ist schon unglaublich, wie sehr unser Familienleben seither besser ist.“

Umstrittene Methoden

„Das Kaninchen, das so gerne einschlafen will“
Das Kinderbuch von Carl-Johan Forssén Ehrlin erzählt die Geschichte vom kleinen Kaninchen Konrad, das so gern einschlafen möchte. Auf seiner Reise ins Traumland besucht es mehrere Tiere und Menschen, unter anderem den Sandmann. Die Geschichte selbst ist weniger aufregend als die Art, wie der Text geschrieben ist. Forssén Ehrlin hat sich „psychologischer Techniken“ bedient und Sätze in den Text eingewoben, die wie eine Hypnoseaufforderung an Kinder klingen: „Mit dieser Geschichte wirst du einschlafen. Jetzt gleich“, ist dort zu lesen. Die Eltern sollen diese Passagen beim Vorlesen besonders betonen.

„Jedes Kind kann schlafen lernen“
Das Buch von Annette Kast-Zahn und Hartmut Morgenroth wurde bereits Mitte der 1990er veröffentlicht und zählt unter Eltern noch immer zu den meist verwendeten Schlafratgebern. Die Psychologin und der Arzt setzen dabei auf die amerikanische Ferber-Methode, entwickelt vom US-Neurologen Richard Ferber. Laut der Methode sollen Eltern ihre Kinder allein zu Bett legen. Wenn diese weinen, dann werden sie nach einem gewissen vorgegebenen Rhythmus wieder beruhigt. Die Methode ist sehr umstritten, weil Kinder allein gelassen werden, was viele Eltern und Ärzte ablehnen. Andere sind von dieser Methode begeistert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.01.2016)

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