Spätestens seit dem Vietnam-Krieg: Fotografien verändern die Welt

Es ist faszinierend zu sehen, wie gerade auch in der Flüchtlingskrise die Stimmung in der Bevölkerung durch Fotos in die jeweils gegensätzliche Richtung kippt.



quergeschriebenFast jeder hat dieses Bild im Kopf: Ein nacktes, in Schrecken versetztes vietnamesisches Mädchen läuft auf den Fotografen zu. Im Hintergrund ein Dorf, das mit Napalm-Bomben angegriffen wurde. Als Aufnahmen wie diese die Haushalte in den USA erreichten, kippte die Stimmung gegen den Vietnam-Krieg. Erstmals veränderten Bildberichte den Lauf der Geschichte. Wie anders wäre der Zweite Weltkrieg wohl verlaufen, hätte es damals bereits die Technologie und die Möglichkeit gegeben, Fotos von Untaten in alle Welt zu schicken?

Im Falle der deutschen Bundeskanzlerin, Angela Merkel, begannen ihre Schwierigkeiten im Umgang mit der Flüchtlingskrise bereits im Juli 2015. Bei einer Begegnung mit Schülern in Rostock erzählte ein Mädchen aus dem Libanon in bestem Deutsch davon, dass sie und ihre Familie abgeschoben werden sollen, und begann zu weinen. Die Kanzlerin war von der Situation merklich überfahren und unangenehm berührt.

Sie versuchte, das Mädchen zu trösten, und nannte ihm Gründe dafür, dass es nicht in Deutschland bleiben könne. Es gäbe doch so viele Menschen im Nahen Osten und in Afrika, die alle nach Deutschland kommen wollten, und es sei unmöglich, sie alle aufzunehmen. Die Bilder des Gesprächs verbreiteten sich viral. Eine Flut negativer Reaktionen brach über Merkel herein. Kalt und unbarmherzig sei sie, wie Deutschland insgesamt, gerade auch gegenüber Griechenland.

Nur zwei Monate später vollzog Merkel eine 180-Grad-Kehrtwende. Angesichts der Bildberichte von Zehntausenden Flüchtlingen, die nach Deutschland wollten, erkannte die Kanzlerin die drohenden verheerenden Folgen für ihr Image und das ihres Landes, wenn sie die Grenzen dichtmachen würde. Aufgewühlt wurde die Stimmung durch das Foto eines kleinen Buben, der tot am Strand lag. Es ging um die Welt. Hierzulande irritierten die Bilder von 71 Flüchtlingen, die in einem Kühllastwagen starben, als sie illegal nach Österreich einreisen wollten.

In dieser Situation zeigte Angela Merkel Herz, ließ die flüchtenden Menschen in Deutschland einreisen, stellte sich für Selfies mit Flüchtlingen zur Verfügung. Auch diese Bilder verbreiteten sich im Internet viral und ließen den Ansturm an Flüchtlingen weiter anschwellen. Mit diesen Fotos riss Merkel – vorerst – die Deutschen und auch Österreicher mit. Der Begriff „Willkommenskultur“ wurde zur Marke des neuen Deutschland.

Der nächste Kreuzungspunkt war die Silvesternacht von Köln. Die Berichte von massenweisen Übergriffen von Flüchtlingen auf deutsche Bürger, insbesondere Frauen, verbreiteten sich nach einer Schrecksekunde erneut in Windeseile. Die Stimmung in Deutschland kippte abermals in die entgegengesetzte Richtung.

Gerade einmal ein Monat ist seither vergangen. Verschärfte Maßnahmen gegen Flüchtlinge wurden beschlossen und sind bereits in Anwendung, die vor den Geschehnissen von Köln noch ein Sakrileg dargestellt hätten: Die Grenzen werden dichter abgeriegelt, Flüchtlinge sollen in großer Zahl aus Schweden, Deutschland, Österreich wieder zurückgeschafft werden.

Es ist unschwer vorherzusagen, welche Bilder den nächsten emotionalen Aufruhr hervorrufen werden. Sobald die ersten Flüchtlingsfamilien mit weinenden Kindern zu bereitstehenden Chartermaschinen gebracht werden, oder Fotos von gefesselten und vielleicht sogar geknebelten jungen Männern auftauchen, die in ihre Heimat abgeschoben werden, wird der Aufschrei wieder gewaltig sein. Man möchte sich nicht vorstellen, wie Angela Merkel dies vor laufender Kamera wird erklären müssen.

In eine ganz andere Richtung würde die Stimmung kippen, sollten sich die Prognosen von bevorstehenden Terrorattacken bewahrheiten. Kommt es in diesem Jahr womöglich zu einer Serie von Anschlägen wie jenen von Paris, dann sind die politischen Konsequenzen für Europa unabsehbar. Die Bilder und die aus ihnen resultierende Stimmung würden wir uns lieber ersparen wollen.

E-Mails an:debatte@diepresse.comZum Autor:

Mag. Martin Engelberg ist Psychoanalytiker, geschäftsführender Gesellschafter der Vienna Consulting Group, Lehrbeauftragter an der Wirtschaftsuniversität Wien und Herausgeber des jüdischen Magazins „NU“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.02.2016)

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