Der beliebte "Bastard"

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Historische Romane sind viel geschmäht – und Weltliteratur.

Denkt man an die Anfänge des historischen Romans, fallen einem am ehesten „Ivanhoe“ und sein Autor ein, der berühmte Schotte Sir Walter Scott. Er gilt als eigentlicher Schöpfer des Genres, allerdings hatte er Vorläufer. Einer der wichtigsten war eine Frau: die 1819 verstorbene Schriftstellerin Benedikte Naubert. Der französische Name war ein Pseudonym, eigentlich hieß die Autorin Christiana Benedicta Hebenstreit und stammte aus Leipzig.

Fast durchwegs anonym veröffentlichte sie über 50 historische Romane – Unterhaltungsliteratur in jenen Jahrzehnten, in denen das Lesen zur Massenbeschäftigung wurde. Naubert war eine Bestsellerautorin. Ihre Romane wurden teilweise ins Französische und Englische übersetzt, sodass auch der englische Schriftsteller Walter Scott sie kennenlernte – und sich von ihnen inspirieren ließ.

Naubert war zum Beispiel eine der Ersten, die weniger bekannte historische Persönlichkeiten zu Helden ihrer Bücher machte, oder die wie später Scott fiktive Personen an der Seite oder im Umkreis historischer Prominente Weltgeschichte erleben ließ. Als Autor ihrer Werke vermutete die Öffentlichkeit lange Zeit einen Mann, bis 1817 ihre Identität aufgedeckt wurde. Auch das von ihr gepflegte Genre hatte es nicht leicht. Es wurde als „Zwitter“, als „Bastard“ geschmäht. Einerseits wurden historische Romane als Geschichtsfälschung und Irreführung der Leser kritisiert. Andererseits wurde den Autoren vorgeworfen, mit ihrer Orientierung an historischen Fakten die Dichtung zu verraten.


Von „Erl-King“ zu „Ivanhoe“.Naubert geriet nach ihrem Tod 1819 in Vergessenheit. Ihr begeisterter Leser Walter Scott war damals gerade berühmt geworden – allerdings ebenfalls anonym. Er hatte als junger Mann mit Nachdichtungen deutscher Balladen (z. B. einem „Erl-King“ zu Goethes „Erlkönig“) und Übersetzungen deutscher Dramen begonnen. Im Jahr des Wiener Kongresses 1814 veröffentlichte er dann anonym – um seinen Ruf als Jurist nicht zu gefährden – seinen historischen Roman „Waverley“. Das Buch erzählt vom letzten Aufstand der Jakobiten, der im 18.Jahrhundert von Schottland ausging und das Ziel verfolgte, dem Hause Stuart in London wieder zur Macht zu verhelfen.

Scotts Werk entsprach dem Interesse der Romantik an der (teilweise verklärten) Vergangenheit und dem Aufkeimen des Nationalismus in Europa. Geschichte war hier nicht mehr nur exotische Abenteuerkulisse, sondern wurde selbst zum Thema. „Waverley“ wurde begeistert aufgenommen und gilt bis heute als ein erster Markstein des neuzeitlichen historischen Romans. Vom Erfolg ermuntert, ließ Scott nun weitere folgen. Bis heute am berühmtesten ist „Ivanhoe“ (1820), das im England des 12. Jahrhunderts spielt.

Scott als „Shakespeare“. Goethe mochte Scotts Werke sehr, Fontane nannte den Schotten sogar den „Shakespeare der Erzählung“. In etlichen Ländern eiferten Autoren seinem Vorbild nach, zum Teil große: etwa in den USA der Schriftsteller James Fenimore Cooper, in Frankreich Balzac und Victor Hugo (dessen Roman „Der Glöckner von Notre-Dame“ die Franzosen dazu brachte, sich für die Erhaltung gotischer Kunst einzusetzen), in Russland Puschkin. Außer Shakespeare dürfte kaum ein Autor mit seinem Werk so häufig für Opernlibretti verwendet worden sein wie Scott im 19. Jahrhundert.

Viele historische Romane des 19. Jahrhunderts waren auch Versuche, mithilfe von historischen Analogien die Gegenwart zu deuten. Das konnte zur Verhüllung dienen, wenn es um politisch Brisantes ging. Deswegen erlebte der historische Roman auch während der NS-Zeit eine neue Blüte – er wurde zu einer wichtigen antifaschistischen Literaturform.

Umberto Ecos „Der Name der Rose“, Salman Rushdies „Mitternachtskinder“ oder Thomas Pynchons „Mason & Dixon“ sind Beispiele für die postmoderne Phase des historischen Romans, in der das Genre noch einmal zur Hochform auflief. Bei Umberto Eco erscheint Geschichte als ein Dialog zwischen Texten; die Mode, Romane rund um geheimnisvolle Manuskripte zu schmieden, ist eine Folge davon. Auch neuere Romane wie Cheheltans „Der Kalligraph von Isfahan“ oder Amin Maaloufs „Samarkand“ kreisen um Manuskripte „weiser“ Muslime aus alten Zeiten: alte Texte als sanfte Waffen gegen den Fundamentalismus von heute. (sim)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2016)

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