Harper Lee ist tot: Ein Roman, eine Legende

 Die Schriftstellerin Harper Lee (1926–2016) veröffentlichte im Jahr 2015 eine frühere Fassung ihres Erfolgsromans.
Die Schriftstellerin Harper Lee (1926–2016) veröffentlichte im Jahr 2015 eine frühere Fassung ihres Erfolgsromans.(c) REUTERS
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Die US-amerikanische Autorin Harper Lee ist tot. „Wer die Nachtigall stört“ wurde als Plädoyer gegen die Rassentrennung und für Toleranz legendär.

Es gibt Szenen im Film „Wer die Nachtigall stört“, die man schwer vergisst: Zum Beispiel wie Gregory Peck als Vater Atticus mit seiner rührenden Tochter Scout vor dem Haus sitzt und sie ihm erzählt, dass sie sich mit einem Buben geprügelt hat und nun wegen der Schelte der Lehrerin nicht mehr in die Schule gehen will. Peck verrät ihr daraufhin einen „schönen Trick“: „Du verstehst einen Menschen erst richtig, wenn du die Dinge, oder was es gerade ist, auch mal von seinem Standpunkt aus betrachtest, wenn du mal in seine Haut kriechst und darin herumspazierst.“ Heute klingt das nach Allerweltspädagogik. Im Amerika der 1960er-Jahre war es das nicht – schon gar nicht, wenn es darum ging, sich in die Haut eines Schwarzen zu versetzen. Genau das tut der Anwalt Atticus Finch in Harper Lees Roman „Wer die Nachtigall stört“, und auch wenn er am Ende den Prozess verliert und der Mann, den er verteidigt hat, erschossen wird – im Roman ist klar, das Gute hat trotzdem gesiegt.

Romanheldin als Alter Ego

1960 veröffentlichte die damals 34-jährige Harper Lee ihren Roman „To Kill a Mockingbird“ („Wer die Nachtigall stört“). Dieses mit seiner kindlichen Perspektive so ergreifende literarische Plädoyer für Toleranz und Menschlichkeit war keineswegs selbstverständlich in jener Zeit, in der ein Martin Luther King in Haft saß und die Rassentrennung immer noch Alltag war. Bis kurz vor ihrem Tod am Freitag, dem 19. Februar, sollte es die einzige Veröffentlichung dieser Autorin bleiben. Das Mädchen, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird, hatte Harper Lee als ihr Alter Ego angelegt, wie Atticus war auch ihr Vater ein Rechtsanwalt. Aufgewachsen im US-amerikanischen Bundesstaat Alabama, wollte sie eigentlich eine Sammlung von Kurzgeschichten über das Leben in den Südstaaten in den 1920er- und 1930er-Jahren schreiben. Schließlich verschmolz sie ihre Entwürfe zu einem Roman, für das Hauptthema ließ sie sich von einem Gerichtsfall aus dem Jahr 1933 über die Vergewaltigung einer Weißen durch einen Schwarzen inspirieren. Gerüchte, dass ihr Kindheitsfreund, der Autor Truman Capote, den Roman mitverfasst habe, sind bis heute unbestätigt. Harper Lee erhielt für den Roman den Pulitzer-Preis, ein Jahr später folgte die berühmte Verfilmung mit Gregory Peck, die diesem einen Oscar einbrachte.

Dann wurde es still um Harper Lee, sie veröffentlichte nichts mehr, lebte zurückgezogen in ihrer Geburts- und Heimatstadt Monroeville. Vor einem Jahr aber rückte sie schlagartig wieder in den Mittelpunkt der literarischen Aufmerksamkeit – ihr Verlag gab die Veröffentlichung eines zweiten Romans mit dem Titel „Go Set a Watchman“ bekannt. Wie sich herausstellte, war er nicht neu, sondern älter als ihr erster Roman – es handelte sich um eine frühere Fassung davon, die allerdings 20 Jahre nach der endgültigen spielt, als die Hauptfigur von New York nach Alabama zurückkehrt, um ihren Vater zu besuchen. Das verschollen geglaubte Manuskript war Ende 2014 in Lees Archiv entdeckt worden. Mit einer Startauflage von zwei Millionen wurde es veröffentlicht und mäßig begeistert aufgenommen. Für ihren ersten Roman jedoch bleibt Harper Lee unvergessen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2016)

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