Industrie: Die Briten im chinesischen Stahlgewitter

CHINA STEEL MARKET
CHINA STEEL MARKET(c) EPA (YOUTH JIN)
  • Drucken

Nach den Bergarbeitern geht es jetzt der britischen Stahlindustrie an den Kragen. Von einst 350.000 Stahlarbeitern sind gerade noch 25.000 übrig geblieben.

London. Stahl ist der Werkstoff, aus dem die moderne Industriegesellschaft geformt wurde. Aus Stahl bog Großbritannien einst die Gleise, die der industriellen Revolution den Weg bereiteten, baute die Schiffe, mit denen es sein Weltreich eroberte, und zog die Bankenhochhäuser in der Londoner City fast bis in den Himmel hoch. „Wer keinen Stahl produziert, kann nichts herstellen“, sagt der Industrielle Sanjeev Gupta.

Diese einst so stolze Industrie ist heute in Großbritannien in akuter Gefahr. Nachdem bereits im Vorjahr mehr als 6000 von 30.000 Arbeitsplätzen verloren gegangen sind, setzten sich die Hiobsbotschaften im neuen Jahr nahtlos fort: Erst kündigte Tata Steel, der größte Produzent des Landes, den Verlust von 1050 Jobs an. Dann folgte der letzte verbliebene unabhängige Stahlhersteller in britischer Hand, Sheffield Forgemaster, mit dem Abbau von 100 Arbeitsplätzen.

Einst 350.000 Briten in Stahlindustrie

Die Frage ist nicht mehr, was von der britischen Stahlindustrie gerettet werden kann, sondern ob es sie noch lang geben wird. „Der Stahlindustrie droht ein tödlicher Niedergang“, sagt der Labour-Abgeordnete Iain Wright. Es ist nicht die erste Stahlkrise, die Großbritannien erlebt, aber es könnte die letzte sein.

Auf ihrem Höhepunkt beschäftigte die britische Stahlindustrie im Jahr 1967 mehr als 350.000 Menschen, von denen 200.000 bei dem Staatsbetrieb British Steel in Lohn und Brot standen. Von den Gewerkschaften kontrolliert, unrentabel geführt und von allen Regierungen als Arbeitsplatzgarant unangetastet, stürzte der Sektor mit dem ersten Ölpreisschock 1973 in eine existenzielle Krise.

Am Ende eines brutalen Schrumpfungs- und Sanierungskurses sank die Zahl der Beschäftigten auf heute rund 25.000. British Steel wurde privatisiert, in die britisch-niederländische Corus verwandelt und schließlich 2007 an den indischen Tata-Konzern verkauft.

Das starke Pfund, doppelt so hohe Energiekosten wie die Konkurrenten aus Frankreich und Deutschland, fünf bis sieben Mal höhere Steuerbelastungen, vor allem aber die Konkurrenz aus China setzen den britischen Herstellern massiv zu. „Alles, was wir wollen, ist Chancengleichheit“, beklagt Gareth Stace, der Direktor des Industrieverbands UK Steel.

Davon sieht man sich weit entfernt: China produzierte 2014 nach Angaben der Investmentbank UBS 822,7 Millionen Tonnen Stahl bei einer Weltproduktion von 1,6 Milliarden Tonnen. Aufgrund der nachlassenden Konjunktur wurde das Material auf die Weltmärkte geschwemmt: In den ersten elf Monaten des Jahres 2015 exportierte China nach offiziellen Exportstatistiken 102 Millionen Tonnen Stahl, ein Zuwachs um 22 Prozent im Jahresvergleich. Zum Vergleich: Großbritannien produziert rund zwölf Millionen Tonnen im Jahr. Zugleich fiel der Preis für eine Tonne europäischen Warmstahls von 642 Euro im Jahr 2011 auf 320 Euro.

Die chinesische Stahlindustrie hat nach Berechnungen des Analysten Seth Rosenfeld von der Brokerage Jeffries Überkapazitäten von jährlich 360 Millionen Tonnen – und diese Angaben wurden vor den jüngsten Turbulenzen der Weltwirtschaft ermittelt. Chinesische Stahlproduzenten haben 520 Milliarden Dollar Schulden bei heimischen Banken, sagt Rosenfeld. Aber angesichts von drei Millionen Beschäftigten auf diesem Sektor wagt die politische Führung keine einschneidenden Schritte.

Kein Stahlwerk mehr in Schottland

Zugleich hält die EU-Kommission den Gedanken des freien Wettbewerbs hoch. Nach massivem Lobbying der britischen Regierung stimmte Brüssel Kompensationen zum Ausgleich von höheren Energiepreisen in der Höhe von 380 Millionen Pfund zu. Das ist nicht viel mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. „Das ist zwar eine Erleichterung“, sagte Stace. „Aber das chinesische Dumping geht weiter und muss gestoppt werden.“

Der Niedergang der Stahlindustrie wiegt umso schwerer, weil er tief in das traditionelle Gefüge der britischen Gesellschaft schneidet. Seit der Schließung des Werks in Dalzell im Oktober 2015 wird erstmals seit 200 Jahren in Schottland kein Stahl mehr hergestellt. Der Ökonom Paul Forrest hat errechnet, dass 5000 verlorene Jobs in der Stahlindustrie 50.000 weitere Arbeitsplätze kosten – von Zulieferbetrieben bis zu dem Pub, in dem die Arbeiter nach ihrem Dienst am Hochofen ihren Durst stillen und immer öfter ihren Frust ertränken.

Die Schließung der großen Stahlwerke führt zur Verödung ganzer Regionen. „Alles hier ist auf Stahl gegründet“, sagt ein Arbeiter aus dem walisischen Port Talbot, wo Tata Steel 950 Arbeitsplätze streicht. „Ohne das Werk werden wir zu einer Geisterstadt.“ Mit den Stahlwerkern geht nach den Kumpeln aus dem Bergbau einer der letzten hoch bezahlten Arbeiterjobs verloren. „The race to bottom“, das Rennen nach unten, geht in rasantem Tempo weiter.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

TAIWAN SHIPPING KAOHSIUNG HABOUR
International

Chinas Überkapazitäten von A wie Aluminium bis Z wie Zement

Chinas Schwerindustrie sorgt weltweit für dramatisch fallende Grundstoffpreise. Die Europäische Handelskammer schlägt Alarm.
THEMENBILD
Österreich

„Dann ist die Hälfte der Industrie verschwunden“

Europas Stahlindustrie fordert Schutz vor Chinas Billigimporten. Die Branche büßt für ihre Versäumnisse – sie muss ihre eigenen Überkapazitäten abbauen. Europa braucht aber auch eine industriefreundliche Klimapolitik.
Hochofen
International

China gibt EU-Stahlbranche den Rest

China produziert viel mehr Stahl, als es selbst verbraucht, und überflutet die EU mit billigem Stahl. Europas Stahlkocher kommen nicht mehr mit. Dafür hat auch Brüssel selbst gesorgt.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.