Frankreich: Verzweifeltes Hoffen auf ein Entkommen aus dem „Dschungel“

(c) APA/AFP/DENIS CHARLET
  • Drucken

Weder scharfe Kontrollen noch gutes Zureden oder die Drohung mit der Räumung durch Polizei und Bulldozer hält Tausende von Flüchtlingen ab, in Calais die Überfahrt über den Ärmelkanal nach Großbritannien zu versuchen. Belgien hat Grenzkontrollen eingeführt.

Paris. Für die Pariser Regierung ist es beschlossene Sache: Der „Dschungel“, dieses Flüchtlingscamp außerhalb der nordfranzösischen Hafenstadt Calais am Ärmelkanal, muss verschwinden. Die Ansammlung von Hütten aus Plastik und Holz, in denen mittlerweile eine nicht genau bekannte Zahl von mehreren Tausend Flüchtlingen und Migranten aus Syrien, Irak, Iran, Afghanistan, Somalia und Sudan unter unsäglichen Bedingungen leben, ist ein Schandfleck. Das ist der einzige Punkt, in dem sich alle einig sind, sowohl die Behörden, die Hilfsorganisationen, aber auch die Anwohner von Calais – und nicht zuletzt die direkt Betroffenen. Und besonders unerträglich ist, dass diese Situation in mehr oder weniger vergleichbarem Ausmaß nun schon seit der Schließung des Durchgangslagers des Roten Kreuzes in Sangatte 2002 andauert. Calais ist damit seit Langem wie ein auf diesen Brennpunkt konzentrierter Modellfall des Flüchtlingsproblems, mit dem viele europäische Länder konfrontiert sind.

Weder die ständig verschärften Kontrollen rund um die Zufahrten zu den Fährschiffen im Hafen von Calais oder zum Bahntunnel unter dem Kanal noch die polizeiliche Vertreibung der auf eine illegale Überfahrt wartenden Migranten haben etwas gebracht. Da diese um jeden Preis nach Großbritannien wollen, wo sie sich eine leichtere Anerkennung als Flüchtlinge und bessere Arbeitsbedingungen versprechen, nehmen sie auch immer größere Risken in Kauf. Vertreter der staatlichen Behörden versuchen darum, ihnen klarzumachen, dass die Reise nach Dover durch das Nadelöhr von Calais heute so gut wie unmöglich sei. Hingegen hätten sie die Chance, in Frankreich einen Asylantrag zu stellen und sich umsiedeln zu lassen. Entweder in ein Flüchtlingsheim irgendwo in Frankreich – meistens möglichst weit weg vom lockenden Ärmelkanal – oder in das nur ein paar Hundert Meter entfernte Provisorium aus umgebauten Frachtcontainern.

Im Gegenzug möchten die Behörden wenigstens die südliche Hälfte des „Dschungels“ räumen. Ihren Schätzungen zufolge leben dort gegenwärtig 800 bis 1000 Menschen. Die Hilfsorganisationen dagegen sagen, es seien fast 3500, unter ihnen 350 Minderjährige ohne erwachsene Begleitung. Wo sollen sie alle hin, wenn die Bulldozer kommen? Die Regierung hatte ihnen ein Ultimatum gestellt. Bis Dienstagabend sollten sie ursprünglich freiwillig wegziehen.

Gericht erlaubt teilweise Räumung

Aufgrund einer gerichtlichen Beschwerde von humanitären Organisationen erhielten sie zunächst einen Aufschub. Doch das zuständige Verwaltungsgericht in Lille entschied am Donnerstag, dass ein Teil des Flüchtlingslagers geräumt werden dürfe. Die Menschen, die bei Calais im Dreck und in der Kälte ausharrten, hoffen trotzdem weiterhin darauf, irgendwie doch noch in das vermeintliche Dorado jenseits des Kanals zu gelangen. Ein Teil von ihnen hat sich sogar auf Dauer in diesem Camp eingerichtet. Es gibt in diesen improvisierten Unterkünften ein paar Läden, Imbisse und Gebetsräume. Auch diese sollen plattgewalzt werden. Neben den lokalen Flüchtlingshelfern haben sich auch ein paar Prominente engagiert. So kam der britische Filmstar Jude Law zu Besuch. Mit seinen Stiefeln stapfte er am Sonntag durch Schlamm und Dreck. Er forderte die Regierung seines Landes auf, wenigstens die rund 90 Kinder aus dem Lager in Calais aufzunehmen, die in Großbritannien bei Verwandten Aufnahme finden würden.

Mit den humanitären Appellen und dem schlechten Gewissen über die menschenunwürdigen Bedingen im Flüchtlingslager kontrastiert die wachsende Feindseligkeit eines Teils der Bevölkerung, die zudem von der extremen Rechten politisch instrumentalisiert wird. Die französischen Behörden stehen unter Handlungszwang, haben aber keine wirkliche Lösung. Die belgische Regierung befürchtet, dass immer mehr Flüchtlinge aus Calais kommen, um im Hafen von Zeebrugge ihr Glück zu versuchen. Um zu vermeiden, dass dann ein Camp wie bei Calais entsteht, hat Belgien die Grenzkontrollen zu Frankreich wieder eingeführt – in der Flüchtlingspolitik ist mehr denn je jeder Staat sich selbst der Nächste. Mit dem Hinweis auf die Probleme in Calais weigert sich auch Frankreich, bei einer eventuellen Neuverteilung der Ankommenden aus Syrien und dem Irak zusätzliche Kontingente aufzunehmen. (r.b.)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.02.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Weltjournal

Dutzende Verletzte bei Schlägerei im Flüchtlingslager Calais

Bis zu 300 Afghanen und Sudanesen gingen im Flüchtlingslager in Nordfrankreich mit Stöcken und Steinen aufeinander los.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.