Brasilien: Die Nacht der langen Messer im Senat

Eine Gegnerin von Präsidentin Rousseff tat ihren Unmut vor dem Parlament kund – und ihre Freude über Rousseffs Suspendierung.
Eine Gegnerin von Präsidentin Rousseff tat ihren Unmut vor dem Parlament kund – und ihre Freude über Rousseffs Suspendierung.(c) APA/AFP/ANDRESSA ANHOLETE
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Nach einer Marathonsitzung suspendierte die Mehrheit der Senatoren Präsidentin Rousseff für ein halbes Jahr von ihrem Amt. Eine Konfrontation auf der Straße blieb vorerst aus.

Brasilia. Proteste sind erwartet worden, Aufmärsche und Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern von Dilma Rousseff. Häftlinge haben eine Mauer aus Metalltafeln aufgestellt, um die Esplanada dos Ministérios zweizuteilen, jene mächtige Magistrale, die Brasílias Regierungsviertel durchschneidet. Die Nordseite war für die Anhänger Präsidentin Rousseffs reserviert, im Süden sollten die Gegner feiern. Tausende Polizisten sind aufmarschiert.

Doch dann geschah vorerst fast nichts. Anders als bei der Abstimmung im Kongress Mitte April, deren Showdown ja an einem Sonntag stattfand, blieb das Volk daheim. Höchstens 200 Demonstranten, gewandet in das gelb-grüne Nationaltrikot, scharten sich um einen mächtigen Sattelschlepper voll geladen mit Lautsprechern, deren Ausstoß die halbe Stadt beschallte. Auf dem Dach dieser Lärmmaschine bemühten sich stimmkräftige Animateure um Siegesstimmung. „Uma noite fantástica“, grölte einer über die menschenleere modernistische Prachtmeile des legendären Architekten Oscar Niemeyer. „Brasilien ist nicht Venezuela!“ Immer wieder repetierte er das Motto des Abends: „Dilma ist gestürzt!“

„Das ist ein Staatstreich“

Darüber herrschte Einigkeit auf beiden Seiten der Trennwand. Nur die Deutung war unterschiedlich. „Eine Schande ist das“, skandierten mehrere Studentinnen in roten Shirts und Kleidern. Eine davon, Luciana, 22, und angehende Pädagogin, resümierte: „Eine Präsidentin, die nicht gestohlen hat, wird demontiert von einer Horde aus Dieben und Betrügern. Das ist keine Demokratie, das ist ein Staatsstreich!“

Das sollte anderntags auch Dilma Rousseff vor ihren Anhängern sagen. Sie waren auch in der Nacht der Marathonsitzung im Senat in der Überzahl, die über das einstweilige Schicksal der Präsidentin entscheiden sollte. Auch ihre Getreuen haben einen Lautsprecher-Lkw aufgeboten, der aufgezeichnete Reden von jenen wenigen Senatoren abspulten, die Rousseffs Regierung an diesem Tage noch verteidigten. Ein Gewerkschafter hielt mit dröhnendem Bass eine Brandrede, die in einer mehrfach wiederholten Grußadresse über die Mauer hallte: „Golpistas, fascistas!“ Er meinte die „faschistischen Putschisten“. Ein Barde klimpert auf seiner Gitarre „We Shall Overcome“.

Viel mehr blieb nicht zu singen an diesem Abend der Melancholie. Der Untergang im Senat hatte sich früh abgezeichnet. Als schließlich gegen halb sieben Uhr früh die meisten der 78 anwesenden Senatoren gesprochen hatten, stimmten 55 von ihnen für die Amtsenthebung der Präsidentin und lediglich 22 dagegen. Senatspräsident Renan Calheiros enthielt sich der Stimme.

Anders als die turbulente dreitägige Kongressdebatte Mitte April lief die live übertragene Senatssitzung ruhig ab. Der Saal war zumeist halb leer, viele Senatoren gaben den zahllosen Reportern lieber Interviews, als den Argumenten der Kollegen zu lauschen. Dass viele aus dieser honorigen Runde erhebliche Probleme mit der Justiz haben, sprachen die Rousseff-Verteidiger denn auch an. Sie zogen die Rechtmäßigkeit des Impeachment-Verfahrens in Zweifel. War die Haushaltskosmetik im Wahlkampf 2014 wirklich so schwerwiegend, um eine Amtsenthebung einzuleiten?

Rousseffs Gegner mühten sich derweil, die verheerende Situation der Wirtschaft noch verheerender darzustellen. Sie brachten die Misere – Rezession, elf Millionen Arbeitslose, zehn Prozent Inflation und ein Haushaltsloch von mehr als 30 Milliarden Euro – mit Rousseffs Haushaltsmanövern, ihren unorthodoxen Wirtschaftskonzepten und ihrem beratungsresistenten Regierungsstil in Verbindung.

Den Senatoren und dem Präsidenten des obersten Gerichtshofes bleiben sechs Monate Zeit, um endgültig über Rousseffs Schuld zu befinden. Bei einer Zweidrittelmehrheit im Senat ist die Präsidentin ihr Amt endgültig los – und ihre Privilegien: die Residenz, den Palácio da Alvorada, die Nutzung von Staatskarossen und Flugzeugen. Acht Jahre lang könnte sie nicht mehr für ein politisches Amt kandidieren.

Entscheidung binnen 90 Tagen

Lang hat Rousseffs Umgebung gehofft, im Senat nicht mehr als 50 Gegenstimmen zu kassieren. Doch nach der klaren Abstimmungsniederlage muss die brasilianische Arbeiterpartei ihre Strategie überdenken. Rousseff wollte auch vor allem im Ausland, etwa bei der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) oder dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica, um Unterstützung werben, um Druck auf wankelmütige Senatoren auszuüben.

Senatspräsident Renan Calheiros – einer der Verdächtigen im Korruptionsfall Petrobras – hat bereits angedeutet, dass der Senat indes lang vor Ablauf der Sechsmonatsfrist sein endgültiges Urteil fällen könnte, nämlich innerhalb von 90 Tagen, vor Beginn der Olympischen Spiele in Rio.

AUF EINEN BLICK

Amtsenthebung. In einem umstrittenen Procedere stimmte nach einer Zweidrittelmehrheit im Repräsentantenhaus auch der Senat für eine Suspendierung von Präsidentin Dilma Rousseff. Innerhalb von 180 Tagen muss der Vorwurf der Budgetmanipulation geprüft werden. Inzwischen übernimmt Vizepräsident Temer die Agenden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.05.2016)

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