„Drei Schwestern“: Bei Tschechow ist das Dunkel licht genug

(c) Frol Podlesny/Wiener Festwochen
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„Drei Schwestern“ aus Nowosibirsk, gespielt von Gehörlosen, bei den Wiener Festwochen: Ein Ereignis.

Schon wieder Tschechows „Drei Schwestern“, die wir in letzter Zeit dauernd gesehen haben, zuletzt in der Burg. Was haben die Theater für einen Wiederholungszwang! Gut, die Einladung an die Produktion aus Sibirien, die Freitagabend im Museumsquartier Premiere hatte, war vielleicht mehr ein Zufall. Vier Stunden und 15 Minuten mit drei Pausen à zwölf bis 15 Minuten: Kein Nacheinlass! Wer glaubte, seinen Aperol genießen zu können, hatte Pech. Zu Beginn der Vorstellung wird man informiert, dass man diesmal die „Drei Schwestern“ in russischer Gehörlosensprache mit deutschen Untertiteln sehen wird. Das klang nach schwerer Strapaze. Aber dazu ist es ja da, das Festwochen-Publikum, dass es gehörig hergenommen wird. Allerdings: Ein Konversationsstück ohne Worte. Was für einen Sinn hat das?

Miley und Irina. Der Anfang ist zäh. Doch dann nimmt das Theatervehikel gehörig Fahrt auf – und am Ende gibt es Standing Ovations für diesen besonderen Abend in der Regie von Timofej Kuljabin. Die „Drei Schwestern“ leben in einer Art flach gelegtem Puppenhaus, jede hat ihr Zimmer, der Besucher sieht quasi von oben hinein. Im ersten Akt feiert Irina Namenstag, eine junge Frau in Kniebundhosen mit offenen Haaren. Im TV räkelt sich Miley Cyrus auf der Abrissbirne, ein kleiner Skandal 2013: Cyrus wollte erwachsen werden und das biedere Hannah-Montana-Image endgültig abstreifen. Die 1992 in Nashville geborene Sängerin und die Russin sind etwa gleich alt: „I came in like a rainbow“, ruft Cyrus – und das ist haargenau auch Irinas Traum: Sie will nach Moskau und endlich die wahre Liebe kennenlernen.

Authentische Typen. Allein, es soll nicht sein. Der Haushalt der Prosórows ist zwar mit Apple-Laptops, iPads, Handys ausgestattet, aber das Abheben in westlichen Lebensstil funktioniert nicht. Zu stark sind die Bindungen an Traditionen: Da ist das mächtige Militär, welches den Alltag in der Gouvernment-Stadt bestimmt, die Landwirtschaft, die durch Landreformen und ausländische Konkurrenz in Schieflage geraten ist, die behäbige Bürokratie und nicht zuletzt der Teufel Zufall, der immer dann zur Stelle ist, wenn sich etwas zum Besseren wenden könnte.

Es versteht sich von selbst, dass sibirischer Tschechow mit authentischeren Typen punkten kann als jedes noch so perfekt zugerichtete europäische Theater. Nach Irina (Linda Achmetsjanowa) ist die zweite Person, die ins Auge springt, Mascha (Darja Jemeljanowa), eine schmale elegante, arrogante, aber auch heißblütige Erscheinung, die, nachdem ihr Liebster (Pavel Poljakov als stattlicher Werschinin) sie verlässt, minutenlang schluchzend ihre Angehörigen niederrennt, um ihm zu folgen. Der Anblick schmerzt.

Die Eingeschlossenen. Doch auch die jähen Stimmungswechsel der Figuren beeindrucken, noch mehr ihre Entwicklung während der vier Akte, als wären sie in den Strahl einer Waffe geraten, der sie blitzartig auf ihre graue Substanz schrumpfen lässt oder skelettiert; und das alles ohne Worte! Die Gesten verstärken die Gefühlsausbrüche und ziehen unwiderstehlich in Bann. Gleichzeitig illustriert die minimalistisch angelegte Gebärdensprache den Eindruck von Eingeschlossenheit in ein unentrinnbares Schicksal.

Andrej (Ilja Musyko) und seine Natascha (Claudia Kachussowa) könnten ein modernes Powerpaar wie die Beckhams sein. Doch am Ende schiebt er, das Gesicht unter einer Schirmmütze halb verborgen, den Kinderwagen und fügt sich in die Ménage-à-trois mit seinem Chef Protopopow, die Natascha arrangiert hat. Sie lackiert ihre Zehennägel und lässt den Park neu gestalten. Die zarte, vornehme Olga (Irina Kriwonos) ist zur alten Jungfer geworden. Militärarzt Tschebutykin (Andrej Tschernych) – der im dritten Akt, wenn das Feuer ausbricht und für unheimliche Lichtausfälle sorgt, im Suff die Einrichtung zerlegt – träumt von einer Josefsehe mit Irina, die ihrer Mutter, die der Doktor geliebt hat, ähnlich ist.

Das Laute und die Laute sind ein wichtiges Gestaltungselement dieser Aufführung: Pfeifender Wind, Andrejs Kratzen auf der Geige, Orgelklänge, das heitere und das verzweifelte Lachen, scheppernde Militärmusik. Mehrmals hört man Babys schreien und weinen, aber Bobbik und Sofotschka, die Kinder von Andrej und Natascha, interessieren keinen. Die Erwachsenen drehen unbekümmert ihre Anlage auf volle Lautstärke und tanzen fröhlich und wild, kurz sind alle Frustrationen vergessen. Diese „Drei Schwestern“ sind auch eine Art Oper voller dissonanter, roher, rauer Klänge, eine Symphonie der Verzweiflung über ein kurzes Aufblühen und einen langen Abstieg.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.05.2016)

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