Libyen: "Niemand von uns kneift, alle kämpfen!"

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LIBYA-CONFLICT-IS(c) APA/AFP/MAHMUD TURKIA (MAHMUD TURKIA)
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Der gefährliche Vormarsch der Terrormiliz IS in Libyen ist durch eine Gegenoffensive des Lokalheeres von Misrata zum Erliegen gekommen. Misrata gilt als de facto mächtigste Stadt Libyens.

Mit dumpfem Knall feuern Panzer aus ihren Rohren. Unaufhörlich knattern Flugabwehrgeschütze im Erdkampf und Kalaschnikows. Ein ohrenbetäubender Schlachtenlärm, in dem das Rauschen der Kampfflugzeuge am Himmel untergeht. Ihre Bomben schlagen laut und schwer ein. Staubwolken und Rauch steigen über der libyschen Wüste auf. „Allahu Akbar, Gott ist groß“, rufen Soldaten, die nebeneinander auf dem aufgeschütteten Befestigungswall aus rötlicher Erde stehen.

Wer kein Fernglas hat, versucht auf Zehenspitzen etwas vom Kampfgeschehen in drei Kilometern Entfernung zu erhaschen. „Unsere Truppen kommen gut voran“, behauptet Wissam al-Alwani, einer der Jubilierenden, mit geschultertem Gewehr. „Wir müssen nur noch etwa 20 Kilometer weiter, dann machen wir sie endgültig fertig.“

Der 35-Jährige deutet auf die Straße, die schnurgerade durch den Sand gen Osten läuft. An ihrem Ende liegt Sirte, Heimat des ehemaligen Diktators Muammar al-Gaddafi. Dort hat sich vor einem Jahr die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) festgesetzt und ihr brutales Regime errichtet. Nun soll die Stadt befreit werden. Verbände aus der 250 Kilometer entfernten Hafenstadt Misrata haben eine Großoffensive gestartet. „Kein Terrorist darf entkommen“ sagt al-Alwani und zündet sich eine Zigarette an. „Nur wenn alle erwischt werden, können wir wieder in Frieden leben.“ Er macht einen tiefen Lungenzug.

Der Blitzangriff des IS. Al-Alwani ist kein Freund des Krieges. Nach Ende der Revolution Oktober 2011 hat er seine Waffe in den Schrank gestellt. „Ich bin zurück in mein Elektronikgeschäft in Misrata und hab mich um meine Familie gekümmert.“ Aber jetzt gebe es keine Wahl, betont er mehrmals. Er musste an die Front. Denn der IS wollte expandieren und war in beängstigendem Tempo auf die reiche Handelsstadt an der Küste vorgestoßen. In einem Blitzangriff hatten die Jihadisten vor zwei Wochen den Ort Abugrein genommen, 100 Kilometer südlich von Misrata. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Terroristen Misrata erreicht hätten. Aber der IS hatte sich verschätzt, als er sich mit der drittgrößten Stadt Libyens anlegte: „Wenn es um das Überleben unserer Stadt geht“, erklärt al-Alwani, „dann halten wir Misratis zusammen wie kein anderer Ort in Libyen.“

Im lokalen Radio und Fernsehen sowie von den Minaretten aus wurde zur Mobilmachung aufgerufen. Und die Söhne der Stadt, die zu Libyens besten Kämpfern zählen, folgten dem Ruf. „Es war wie bei der Belagerung im März und April 2011“, sagt al-Alwani. „Niemand von uns kneift, alle kämpfen.“ Damals hatten Regierungstruppen Misrata eingekesselt und wollten in die Stadt vorstoßen. In der besonders hart umkämpften Tripoli-Straße sind heute noch die Spuren des brutalen Kampfes zu sehen. In vielen Gebäuden klaffen große Einschusslöcher und ausgebrannten Wohnungen fehlen die Außenmauern. „Der Kampf hat uns noch mehr zusammengeschweißt und stärker gemacht“, glaubt al-Alwani.

Sechs Monate nach dem Angriff der Gaddafi-Armee marschierten Misrata-Truppen in Sirte ein und töteten Gaddafi (mit Unterstützung von Drohnen und Jets der Nato). Heute stehen die Misratis erneut vor Sirte – diesmal auf der Jagd nach dem IS. Nach den jüngsten erfolgreichen Offensiven gegen die Jihadisten im Irak und in Syrien kommen sie auch in Libyen unter Druck. Der Kampf gegen sie dort ist auch für Europa wichtig: Von Libyens Küste sind es 400 bis 450 Kilometer auf die andere Seite des Mittelmeers, nach Sizilien etwa und den Peloponnes. Europa ist in greifbarer Nähe, IS-Fanatiker können in Flüchtlingsschiffen und eigenen Booten dorthin übersetzen. Die Offensive Misratas gegen den IS ist also nicht nur ein Existenzkampf ihrer Stadt. Wenn Misratis bei diesem Kampf fallen, tun sie das auch für Europa.

Granatsplitter im Hintern. Wenige Kilometer hinter der Front ist das Lazarett. Im Minutentakt fahren Krankenwagen aufs Gelände der ehemaligen Kaserne. „Es sind meist Brustverletzungen“, sagt der Arzt Abdelhakim Schebani, der als Vertreter des Verteidigungsministeriums in Tripoli Dienst tut. „Die Verwundungen könnten vermieden werden, wenn wir vom Ausland mit Schutzwesten unterstützt würden.“ Eben ist ein Patient gestorben, dem eine Kugel das Herz gespalten hatte. Lose hängt ein Arm von der Bahre. Ein anderer Mann hatte mehr Glück. „Die Blutung ist gestoppt“, sagt Schebani. „Wir fliegen ihn mit dem Hubschrauber ins Hospital.“

Auf einer anderen Bahre liegt Ibrahim Glaiwo, der Witze wegen seiner Verletzung einstecken muss: Er hat einen Granatsplitter im Hintern. „Wir sind am Strand entlang vorgedrungen und aus MGs und Granatwerfern beschossen worden“, erzählt der 30-Jährige. „Der IS brachte mehr und mehr Kämpfer in Geländewagen heran.“ Aber an Rückzug haben Glaiwo und seine Kameraden nicht gedacht. „Wir Misratis gehen nur voran und nie zurück!“ Schmerzverkrümmt dreht er sich von der Seite auf den Bauch.

„Ja, immer nur vorwärts, das ist die Tugend der Misratis“, bestätigt Mahmoud Ali Laggah (75). Er habe sein ganzes Leben in der Stadt gewohnt, sagt der Herr im Vorgarten seines Hauses im Jidder-Viertel im Zentrum. Gaddafi habe er nie gemocht. „Am Ende haben wir mit ihm aufgeräumt.“ Nicht umsonst habe Benito Mussolini Libyen als Schlange bezeichnet und Misrata als ihren Kopf, fügt er lachend hinzu. Laggah ist einer der vielen erfolgreichen Geschäftsmänner der Stadt. Er hat eine der besten Autowerkstätten des Landes. In Thailand führt einer seiner Söhne eine Firma, die Ersatzteile nach Libyen importiert. Über Geld will Laggah nicht sprechen. Das hat man in Misrata einfach, so wie Business zum guten Ton gehört. „Wir Misratis haben das im Blut, in den Genen muss man schon sagen“, behauptet er. Er rückt seine beige-braun-karierte Schiebermütze zurecht und grinst. „Misrata ist das Fundament des Landes. Wir sind gebildet, klug und ziehen alle am gleichen Strang. Das macht uns so stark.“

Eine etwas arrogante Stadt. Stolzer Dünkel gehört zum Image der Misratis, dazu ein Hang zur Macht: „Unsere Stadt steht an erster Stelle.“ Danach komme Libyen. „Wer als Gemeinschaft überleben will, muss so denken“, sagt Laggah. Es ist mehr als überleben: Misrata bestimmt die Politik Libyens. Je nach Interessenlage wechselt man die Seiten. Seit März unterstützt Misrata die neue Regierung der Einheit von Premier Fayes Sarrasch und ließ die alte fallen. So hat die von der UN geförderte Führung eine Chance. Das militärische und finanzielle „Kraftwerk“ Misrata sicherte sich hohe Posten: Ahmed Maitik, Geschäftsmann, ist ein Vize des Premiers. Chef des Staatsrats wurde Abdelrachman Swehli, ein reicher Politiker. Beide sind bekannt für die Nähe zur konservativen Muslimbruderschaft, die in Misrata etabliert ist. Bereits nach Ende des Bürgerkriegs sicherten die Stadtmilizen die Ölquellen in Südlibyen. Damit ist Misrata von den Förderanlagen im Osten unabhängig. „So macht man das eben, wenn man klug ist“, meint Werkstättenbesitzer Laggah und schlürft Kaffee. „Und die Muslimbruderschaft ist kein Problem, das sind keine Extremisten wie IS oder al-Qaida.“ So denken die meisten Misrati, vorausgesetzt, die Geschäfte gehen gut. Der Zweck heiligt die Mittel.

Unbeliebte „Besatzer“ aus Misrata. In anderen Städten wie Tripoli ist man anderer Meinung. Dort wurde mehrfach gegen die „Besatzer“ aus Misrata protestiert. Die reagierten mit Schüssen und töteten Demonstranten. „Aufgrund ihrer Stärke machen die Misratis, was sie wollen“, sagt Schukri, ein Ex-Touristenführer. „Sie haben überall die Finger drin und sind die eigentlichen Herren Libyens.“ Man müsse hoffen, dass die neue Regierung das Machtstreben Misratas in den Griff bekomme.

Das aber kann dauern. Erst muss der IS besiegt sein. „In einigen Tagen sollte Sirte erobert sein“, meint General Mohammed Gasri, Sprecher der Truppen Misratis. „Wir werden es so einrichten, dass die Zivilisten die Stadt verlassen können und kein IS-Kämpfer entkommen kann.“ Ein schneller Sieg über Terroristen ist von der Führung Misratas schon oft verkündet worden. Übertreibungen gehören zur Stadt wie Geld, Geschäft und Muslimbrüder.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.06.2016)

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