"Jeden Tag wurden Leute erschossen"

Ali Gedik lebt seit 40 Jahren in Österreich.
Ali Gedik lebt seit 40 Jahren in Österreich.Stanislav Jenis
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Der Putsch riss ganze Familien auseinander – etwa jene des kurdischen Sozialarbeiters Ali Gedik.

„Erdoğan“, sagt Ali Gedik, „hat eine Bevölkerungsschicht geschaffen, die ihn als heilig sieht. Die für die Scharia bereit ist. Aber es gibt sicher viele, die sich seinen Abgang herbeisehnen.“ Der Sozialarbeiter hat die Stunden nach dem versuchten Putsch vergangene Woche mit Entsetzen verfolgt. „Man hat gesehen“, sagt er, „dass die Bevölkerung bereits ist zu lynchen.“ Was habe das mit Demokratie zu tun?

Gedik wuchs in Pazarcık im südöstlichen Anatolien auf, mit Angst und Scham, erzählt er, weil er kurdischer Alevit ist. In den 1970ern war in der nationalistischen Atmosphäre kein Platz für Minderheiten. Schon gar nicht, wenn sich in den Gruppen „linke Störenfriede“ formierten. „Jeden Tag“, sagt der Sozialarbeiter, „wurden Leute auf der Straße erschossen.“

Gedik war 15, als er 1976 mit seinem Onkel die Türkei verließ. Vorarlberg war das Ziel, und hatte er eben erst Türkisch gelernt, musste er sich nun durch die deutsche Sprache ackern. Als Gedik 1980, im Jahr der Junta, für ein paar Wochen in die Türkei zurückkehrte, fand er Pazarcık in Aufruhr. In seiner Abwesenheit hatte sich auch noch der bewaffnete kurdische Widerstand formiert. Ein fatales Klima der Gesetzlosigkeit war die Folge, und in dieser wurden eines Nachts der Bürgermeister des Dorfs und sein Sohn erschossen. „Ihr müsst sofort weg“, sagte Gediks Vater beiden Söhnen, als sie nach dem Aufwachen die Neuigkeiten erfuhren. Denn Gediks Bruder, ein Teenager, hatte sich einer linken Gruppe angeschlossen. Es war die Zeit des Generalverdachts.

Über die Berge gelangte das Trio – ein Nachbarssohn war mit dabei – nach Istanbul und schließlich nach Österreich. Sie stellten einen Asylantrag, kurz danach putschte sich in Ankara das Militär an die Macht. Die Auswirkungen waren nicht auf die Türkei beschränkt. „Hunderte Namen standen in der Zeitung. Meine Knie zitterten“, sagt Gedik. Denn ein paar Wochen nach dem Coup veröffentlichten Medien einen Aufruf des Militärs, wonach die aufgelisteten Staatsbürger sofort ins Land zurückkehren sollten. Darunter Gediks Bruder und der Nachbarssohn, „weil sie den Bürgermeister erschossen haben sollen“. Es sei weitverbreitet gewesen, ungeklärte Taten unliebsamen Bürgern anzuhängen.

Sie kehrten nicht zurück, so nahm das Militär den Vater gefangen, zwei Jahre lang. Briefe zu schreiben war zu dieser Zeit gefährlich, jahrelang hörten Familien nichts voneinander. „Der Putsch“, sagt Gedik, „riss uns auseinander.“ Die anderen Geschwister flohen nach Deutschland, während sie in Österreich blieben, aber das Asylverfahren war zäh. Daher schrieb Gedik 1982 einen Brief an den Präsidenten, Rudolf Kirchschläger: „Er half sofort.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.07.2016)

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