Hält das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei?

File photo of a Syrian boy playing next to the sea at the Souda municipality-run camp for refugees and migrants, on the island of Chios
File photo of a Syrian boy playing next to the sea at the Souda municipality-run camp for refugees and migrants, on the island of Chios(c) REUTERS (ALKIS KONSTANTINIDIS)
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Seit dem Deal mit Ankara sind nie mehr als 150 Menschen pro Tag auf den Inseln angekommen, belegen die offiziellen Zahlen. Mit dem Start des Schuljahres beginnt ein neues Kapitel des interkulturellen Zusammenlebens.

Athen. Angesichts steigender Flüchtlingszahlen aus der Türkei in Richtung Ägäis prophezeite in dieser Woche selbst die „New York Times“ das Ende des Abkommens der Europäischen Union mit der Türkei vom 18. März 2016. Die US-Zeitung ist nicht die erste – seit dem Putschversuch in der Türkei Mitte Juli ist dem Abkommen schon oft das Aus bescheinigt worden. Doch die Statistiken belegen: Der „Damm“ gegen die Flüchtlingsströme hält. Und wer doch über die engen Meerespassagen zwischen Kleinasien und Griechenland die griechischen Inseln erreicht, wird vom „Pufferstaat“ Griechenland abgefangen – ob es das europäische Krisenland so will oder nicht.

In den vergangenen sieben Tagen sind nach offiziellen griechischen Zahlen genau 765 Flüchtlinge angekommen. Das sind also im Schnitt um die 109 Personen pro Tag. Ein paar Tage zuvor mögen es mehr gewesen sein, in den kommenden Tagen sind es womöglich weniger – über 150 Menschen pro Tag im Wochenschnitt waren es jedenfalls noch nie in diesem Jahr, zumindest nicht, seitdem das Abkommen der EU mit der Türkei in Kraft getreten ist. Das ist ein verschwindend kleiner Promilleanteil der wahren Fluchtbewegungen.

Hoffen auf illegale Schlepper

Die Bootsflüchtlinge, die auf den Inseln ankommen und über ihre Beweggründe sprechen, vermitteln mehrheitlich den Eindruck, dass sie nicht wissen, dass Griechenland zu einer Sackgasse für die Flüchtlinge geworden ist. Ihre Fahrt ist also mehr oder weniger einer Informationslücke zuzuschreiben. Andere wieder glauben, dass sie mit illegalen Schleppern entweder auf dem Seeweg über Italien oder auf dem Landweg über Griechenland trotzdem ans Ziel gelangen werden.

Eine reichlich seltsame Zahl in der täglich veröffentlichten Statistik des griechischen Flüchtlingskoordinationsausschusses enthält sogar Hinweise auf die „U-Boote“. So wird in der am Donnerstag veröffentlichten Statistik zu den Daten mit inzwischen über 60.000 Flüchtlingen im Land eine Zahl von geschätzten 8100Flüchtlingen und Immigranten genannt, die „außerhalb von Lagerstrukturen“ leben sollen. Über zehn Prozent der Flüchtlingsbevölkerung also hält sich außerhalb der Kontrolle der griechischen Behörden auf. Angesichts der wirtschaftlichen Lage im Gastgeberland werden diese Menschen jedoch das getan haben, was Hunderttausende andere Migranten seit 2010 vorgemacht haben: Viele dürften Griechenland längst – illegal – verlassen haben, weil es keine Arbeit für sie gibt.

Migrationsminister Giannis Mouzalas kämpft in der Zwischenzeit mit seinen eigenen Zeitplänen. Er hat versprochen, im Herbst die vielen provisorischen Zeltlager im Land aufzulösen. Sie haben wegen ihrer katastrophalen sanitären Zustände für Negativschlagzeilen im Ausland gesorgt. Nun sollen die Lager durch feste, gleichmäßig über das ganze Land verstreute Einrichtungen ersetzt werden. Doch die Verständigung mit den kaum vom Flüchtlingsstrom betroffenen Gemeinden – etwa auf Kreta oder dem Peloponnes – nimmt etwas mehr Zeit in Anspruch als geplant. Die neuen Lager sind noch nicht fertig, entsprechend groß ist die Frustration der Lagerbevölkerung.

Nachdem in Griechenland nach Schließung der Balkanroute Anfang März mit Notplänen die provisorischen Behausungen für die gestrandeten Flüchtlinge aufgebaut wurden, beginnen nun, mit Anfang des Schuljahres, die täglichen Mühen des interkulturellen Zusammenlebens. Die Linksregierung unter Premier Alexis Tsipras will den Flüchtlingskindern in diesem Herbst rudimentären Schulunterricht zukommen lassen – die Jugendlichen sollen in den öffentlichen Schulen des Landes ab dieser Woche Nachmittagsunterricht erhalten. Einem Elternverein der Gemeinde Oraiokastro in Nordgriechenland jedoch passte das nicht – man will keine Fremden in der Schule dulden. Der Bürgermeister, der anfangs seinen rabiaten Mitbürgern „aus Gesundheitsgründen“ nicht widersprechen wollte, versuchte nun – nach Kritik durch den Ministerpräsidenten persönlich –, vorsichtig zurückzurudern.

Auf den Inseln Chios und Lesbos, wo trotz aller Versprechungen von Minister Mouzalas inzwischen 13.000Flüchtlinge festsitzen, brennt die Lunte inzwischen weiter. Rechtsradikale versuchen weiterhin, Stimmung zu machen und Märsche gegen die Flüchtlingslager zu organisieren, auf Lesbos soll eine Organisation gegen die „Islamisierung von Lesbos“ gegründet werden. Erst vorgestern konnte die Polizei nur mit Mühe und unter Einsatz von Tränengas Jugendliche vom Eindringen in das Flüchtlingslager Souda an der Stadtmauer von Chios abhalten. Viele befürchten, dass ernste Zwischenfälle nur noch eine Frage der Zeit sind.

AUF EINEN BLICK

Zwischen 100 und 150 Flüchtlinge kommen täglich über die Ägäis von der Türkei nach Griechenland. Mehr als 1000 Flüchtlinge in der Woche waren es zuletzt indessen nie, seitdem im März der Deal mit der Türkei in Kraft getreten ist. Zum Vergleich: Im vorigen Sommer und Herbst kamen an Spitzentagen mehrere Tausend Flüchtlinge pro Tag.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.09.2016)

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