Von der Utopie zur Hoffnungsarmut

Thomas More, Humanist, Jurist, Politiker, Märtyrer. Gemalt von Hans Holbein dem Jüngeren (1527).
Thomas More, Humanist, Jurist, Politiker, Märtyrer. Gemalt von Hans Holbein dem Jüngeren (1527).(c) National Portrait Gallery, London
  • Drucken

Am Anfang stand eine kurze, nur hundertseitige Schrift. Vor 500 Jahren, im Herbst 1516, ein Jahr vor der Reformation, erschien in der Universitätsstadt Leuwen die Erzählung „Utopia“ des Renaissance-Gelehrten Thomas More. Der Titel des Buches machte eine erstaunliche Karriere. ?

Wie können wir Vernunft, Toleranz und Menschlichkeit in dem Staat, in dem wir leben, verwirklichen? Das ist die entscheidende politische Frage, sie wird heute, immer öfter mit Verzweiflung, gestellt, genauso wie in der Antike bei Platon und vor 500 Jahren in dem Buch des gelehrten Humanisten Thomas More, das in seinem lateinischen Titel „Von der besten Staatsverfassung und von der neuen Insel Utopia“ spricht. Platons Werk „Politeia“ lebt bei uns fort in „Politik“, das aus dem Griechischen gebildete Kunstwort Mores über den „Nichtort“ bereicherte zahllose Sprachen dieser Welt, wurde die Bezeichnung für ein ganzes Literaturgenre und ein populäres Schlagwort für unrealistisch-träumerische Zukunftsvisionen aller Art.

Was Thomas Mores Biografen nicht ruhen ließ: Warum hat der fromme Katholik More, der die Reformation bekämpfte und später von der Kirche heiliggesprochen wurde, eine Schrift verfasst über ein Gemeinwesen, das nach heidnisch-rationalistischen und sozialistischen Ideen verwaltet und gelenkt wurde? War er ein antiklerikaler Wolf im katholischen Schafspelz? Ein Kommunist im 16. Jahrhundert?

Thomas More, der sich latinisiert auch Morus nannte, war vieles zugleich: 1478 in London geboren war er bereits mit 25 Parlamentarier und angesehener Jurist mit umfassender, auch theologischer Bildung. Einer Dame namens Jane Colt ist es zu verdanken, dass er nicht in einem Kloster landete, sondern an seiner politischen Karriere arbeitete, vor allem im Dienste seines Königs, Heinrichs VIII. Es ist denkbar, dass er den angesehenen Humanisten Erasmus von Rotterdam, dem er sich geistig verbunden fühlte, beeindrucken wollte, als er ihm Ende 1516 seinen in Latein geschriebenen philosophischen Dialog „Utopia“ übersandte. Seine steile politische Karriere begann 1529, er wurde zum Lordkanzler, einer Art Premierminister der Renaissancezeit. Heinrich VIII. hielt viel von More, er hatte ihm geholfen, eine Schrift gegen die Lutheraner zu verfassen, was den Papst erfreute und dem englischen König den Ehrentitel Verteidiger des Glaubens eintrug. Als Heinrich aber die englische Kirche vom römischen Papst, der ihm die Auflösung seiner ersten Ehe verbot, lostrennte, verloren viele, die diesen Weg nicht mitgehen wollten, den Kopf. Darunter auch Thomas More. Er verweigerte den Schwur auf die neue Kirche und wurde 1535 enthauptet. „Ich sterbe als des Königs treuer Diener, doch Gottes zuerst“, soll er zuletzt gesagt haben. 1935 wurde er daher heiliggesprochen.

Ausgerechnet dieser Mann, der für die Einheit der Kirche sein Leben opferte, entwarf mit seiner „Utopia“ nach Ansicht der befremdeten Interpreten ein Staatskonzept, das wenig genuin Christliches hat. Vortragen lässt der Autor dieses Konzept von einem Erzähler. Er nennt ihn Raphael Hythlodaeus, der Amerigo Vespucci bei seinen Reisen in die Neue Welt begleitet habe und dort das Staatswesen der Utopier auf einer Insel kennenlernen durfte. Die Isolation der Örtlichkeit, der Inselcharakter, wurde in der Folge prototypisch für die Literaturgattung: eine Versuchsanordnung ohne störende Fremdeinflüsse.

Keine Bettler und Tagediebe.
Alles Geistige wird auf der Insel hoch geschätzt, Faulenzerei, Kartenspiele, gar Ausschweifungen sind verpönt. Hedonisten sind die Utopier nicht, aber die Lust kennen sie schon. Eitler Reichtum, Adel, Schmuck, all das hat mit dem wahren Wert nichts zu tun. Unbegreiflich erscheint hier, weshalb „das von Natur aus so unnütze Gold heutzutage überall in der Welt so hoch geschätzt wird“. Aus Gold werden hier die Nachtgeschirre verfertigt, um die Verachtung zu demonstrieren.

Die gesamte Wirtschafts- und Sozialordnung Utopiens dient der dem Gemeinwohl dienlichen Nutzenmaximierung bis hinunter zu den Legebatterien für Hühner. Hier herrscht Verzicht auf Luxus, dafür allgemeine Arbeitspflicht, Essen gibt es nur gegen Arbeit, man trifft daher keine Tagediebe und Bettler. So reicht für jeden eine tägliche Arbeitszeit von sechs Stunden. Der Unterschied zu den im ersten Kapitel des Buches geschilderten aktuellen Verhältnissen im Europa des 16. Jahrhunderts wird überdeutlich. In einer harschen Sozialkritik wird hier mit dem Bettler- und Diebeswesen in England abgerechnet, es wird zurückgeführt auf die Praxis der englischen Großgrundbesitzer, früheres Gemeindeland großflächig für Weideland einzuzäunen und damit den ansässigen Bauern die Lebensgrundlage zu rauben. Missstände, die als tiefe Krisen der Sozialverfassung angeprangert werden, trotz aller Bissigkeit analytisch-rational. Ironie darf in dem Buch natürlich auch nicht fehlen, etwa wenn Ochsen statt der Ackergäule empfohlen werden: Man könne Erstere nach getaner Arbeit verspeisen.

Die Utopier besitzen eine Religion, einen rein vernunftbegründeten Glauben, doch sie ist in vielem inkompatibel mit dem Christentum, etwa wegen des Frauenpriestertums, der Möglichkeit zur Euthanasie oder der Priesterheirat. Die Inselbewohner sind also Heiden, und dennoch schaffen sie es, bei vielen staatlichen Einrichtungen den Rest des Abendlandes zu übertreffen, und die Priester sind frei gewählt, fromm und angesehen. Stoff zum Nachdenken für die Zeitgenossen.

Die Marxisten und Sozialisten des 19. und 20. Jahrhunderts hatten viel Freude mit Mores Kollektivismusideen im Bereich von Ökonomie und Gesellschaft. Die Utopier wechseln alle zehn Jahre ihre Häuser, um die Ungerechtigkeiten des Privatbesitzes gar nicht erst aufkommen zu lassen. Produktion, Güterverteilung und Arbeitsorganisation basieren auf kollektiver Planung: Kommunismus für alle. Doch die Sprecher in der Schrift sind Rollenträger, es wird auch widersprochen. An anderer Stelle heißt es: „Mir dagegen erscheint dort, wo alles Gemeingut ist, ein erträgliches Leben unmöglich. Denn wie soll die Menge der Güter ausreichen, wenn sich jeder vor der Arbeit drückt, da ihn keinerlei Zwang zu eigenem Erwerb drängt und ihn das Vertrauen auf fremden Fleiß faul macht?“

Kein politisches Aktionsprogramm.
Man merkt: Die „Utopia“ ist keineswegs eine idealstaatliche Schilderung eines Gemeinwesens, der ideale Staat ist das Thema der Schrift, aber die erträumte Wunschwelt ist auf der geschilderten Insel trotz etlicher praktischer Vorschläge nicht völlig realisiert, somit liegt auch kein politisches Aktions- und Modellprogramm vor. More zu einem Vordenker totalitärer Ideen zu machen ist daher völlig unsinnig und widerspricht auch der spielerischen Ironie, mit der die Ideen von verschiedenen Rollenträgern ausgebreitet werden. Eher „führt der Autor den Leser in eine alternative Welt und verfolgt damit das Anliegen, diesen mit geschärftem Blick in die Realität zurückkehren zu lassen“ (Thomas Schölderle, „Geschichte der Utopie“).

Am Ende des 20. Jahrhunderts waren Utopien nicht nur passé, schlimmer noch: Sie waren spätestens nach dem Scheitern des realsozialistischen Experiments 1989 verrufen. Das Jahrhundert der Totalitarismen hatte gründlich aufgeräumt mit Utopien, auch die Träumer der Gegenkultur und die 68er wollten nichts mehr davon wissen, die Ressourcen des Utopischen waren verbraucht. Die Gegenwart ist weit davon entfernt, sich wie Thomas More mit sozialrevolutionären Utopien zu beschäftigen, obwohl wir halbjährlich mit zukunftsweisenden „Revolutionen“ konfrontiert sind. Die utopischen Energien heute konzentrieren sich auf die nächste sich abzeichnende Schlüsseltechnologie. Gemeint sind immer neue digitale Welten, die ausgerufen werden. Die Utopie ist als „Fortschritt“ ins Technische abgewandert und wird völlig von ihm aufgesogen. Eine positive soziale Dimension ist dabei schwer auszumachen, das narzisstisch-selbstverliebte Starren von Millionen Egos auf die eigenen Fotos und Videos oder das Versinken in virtuelle Welten wird man kaum als solche bezeichnen können.

Der Philosoph Thomas Macho schließt in seiner Analyse der Gegenwart an Hans Ulrich Gumbrechts Diktum von einem Zeitalter der „breiten Gegenwart“, einem Leben im Hier und Jetzt, an, wenn er den Niedergang des utopischen Denkens begleitet sieht von einem „synchronistischen Bewusstsein“ als Ergebnis der Omnipräsenz von Medien und sozialen Netzwerken. Die Frage nach der „longue durée“ verschwinde, wenn sich jeder in seinem Wohnzimmer neben seinem Freundeskreis gleichzeitig mit den Schauplätzen in Syrien, Afrika, der Ukraine beschäftige. So entstehe ein apokalyptisches Weltbild „synchron geteilter Hoffnungsarmut“ (Macho). ?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.