Argentinien: Land des Protektionismus

Die Wasserfälle von Iguazú sind die größten der Welt. Mitten hindurch führt die Landesgrenze zwischen Argentinien und Brasilien.
Die Wasserfälle von Iguazú sind die größten der Welt. Mitten hindurch führt die Landesgrenze zwischen Argentinien und Brasilien.(c) Andre Schumacher/laif/picturedesk.com
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Das Land „schützt“ seine Wirtschaft seit Jahrzehnten. Die Konsumenten bezahlen Wucherpreise für zweitklassige Waren.

Buenos Aires. Was Protektionismus bewirkt, ist jedes Wochenende in den hohen Anden zu beobachten. Vor dem Grenzübergang zwischen Chile und Argentinien bilden sich bis zu 30 Kilometer lange Autoschlangen. Dass viele Argentinier acht Stunden Wartezeit unter gleißender Sonne oder in Eiseskälte in Kauf nehmen, hat eine Erklärung: Kleidung, Schuhe, Computer und Kinderspielzeug kosten in Chile die Hälfte oder gar nur ein Drittel.

Diese Preisdifferenz erklärt sich leicht: Chile hat 26 Freihandelsabkommen abgeschlossen und handelt zollfrei mit über 50 Staaten, die mehr als 80 Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts repräsentieren. Argentinien praktiziert theoretisch freien Handel nur mit zehn Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung. Nicht einmal das wird eingehalten. Selbst innerhalb des Gemeinsamen Markts des Südens, Mercosur, in dessen Gründungsdokument vor 25 Jahren die Abschaffung von Handelshemmnissen zwischen den Mitgliedern vereinbart wurde, blockieren weiterhin Zollschranken und Kontingente die Zirkulation von Gütern.

Ende der Abschottung

Was Donald Trump seinen Wählern als Konzept zur Beschäftigungssicherung versprochen hat, versucht Argentiniens Präsident, Mauricio Macri, gerade zu beenden. Seit seinem Wahlsieg vor einem Jahr will er das abgeschottete Land schrittweise „in die Welt zurückführen“.

Gegend hat er reichlich, denn in der Pampa ist das Thema Außenhandel ein Streitthema von beinahe religiöser Dimension: Seit General Juan Domingo Perón und seine bis heute von vielen vergötterte Gattin, Evita, in den 1940er-Jahren beschlossen, die Kornkammer zum Industriestaat zu wandeln, gilt die Maxime: „Vivir con lo nuestro“. So viele Güter wie möglich – von Autos bis zu Zahnbürsten – sollen im Land produziert werden, denn das sichere Arbeitsplätze. 2015, im letzten Regierungsjahr der Peronistin Cristina Kirchner, die verlangt hatte „nicht einmal einen Nagel“ zu importieren, entsprachen die gesamten Einfuhren des Landes folgerichtig nur noch 11,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Summe der eingeführten Konsumgüter repräsentierte gar nur ein Prozent des BIPs. Damit sind die Gauchos zumindest in der Disziplin Protektionismus Weltmeister.

Doch dieses „Leben mit dem Unseren“ hat seinen Preis: Eine TV-Sendung hat vorgerechnet, dass Argentinier ein neues iPhone günstiger bekommen, wenn sie erstens ein Flugticket nach Miami kaufen, zweitens dort das Telefon erwerben und es drittens nach Wiederkehr ordnungsgemäß mit 50 Prozent des Kaufpreises verzollen. Wenn der Flug früh gebucht wird, seien auch noch zwei Hotelnächte drin. Wer gleich drei Handys mitbringt und dann zwei – etwa über den lokalen eBay-Ableger – wieder losschlägt, bekomme das eigene gratis.

Hosen sind achtmal so teuer

Konsumenten mit kleinerem Kreditkartenvolumen kreuzen die Cordillera, um zu sparen. In den chilenischen Filialen der Handelskette Falabella bekommen sie einen Samsung-Fernseher mit gebogenem 55-Zoll-Display für umgerechnet 689 Dollar. In den Läden derselben Kette in Buenos Aires oder Rosario kostet das gleiche Modell – zusammengesetzt in der Sonderwirtschaftszone in Feuerland und Tausende Kilometer über holprige Landstraßen gekarrt – 2300 Dollar.
Und eine Damen-Röhren-Jeans, made in Bangladesch ist bei H & M in Santiago de Chile achtmal günstiger als eine vergleichbare Hose bei der argentinischen Kleiderkette Rapsodia.

Für diese krassen Unterschiede zwischen zwei Nachbarländern mit ähnlichem Durchschnittseinkommen gibt es mehrere Erklärungen. Die meisten Ökonomen halten sie für die Folge exzessiver Protektion argentinischer Produzenten, die, stets mit dem Verweis auf den notwendigen Erhalt von Arbeitsplätzen, die Regierungen zum Erhalt der Handelsschranken drängen. Dabei missbrauchten diese die Industriearbeiter als Schutzschilder, um, abgesichert vor ausländischer Konkurrenz und abgestimmt mit den wenigen inländischen Mitbewerbern, unanständig hohe Gewinne zu erzielen.

Kein Land hat mehr Feiertage

Der Verband der argentinischen Textilwirtschaft argumentiert dagegen, allein 20 Prozent des Verkaufspreises einer Jeans bekämen die Hersteller, während die restlichen vier Fünftel durch Abgaben und Vertriebs- und Werbekosten entstünden. Würde der Staat Steuern und Energiepreise senken sowie die Transportinfrastruktur verbessern, wäre die Herstellung im Land konkurrenzfähig. „Unser größtes Problem sind die ,argentinischen Kosten‘“, klagt auch Dante Choi, Direktor des Haushaltsgeräteherstellers Peabody. Sein Konzern muss Abgabeforderungen von Zentralstaat, Provinzen und auch Gemeinden bedienen. Außerdem zahlen Argentiniens Händler oft erst 90 Tage nach Lieferung der Ware. Zudem seien in Argentinien die Kreditkosten enorm. Bei einem Leitzins von 25 Prozent verlangen die Banken Zinsraten von 40 Prozent und mehr. Dazu addierten sich die horrenden Kosten einer obsoleten Infrastruktur: „Eine Lkw-Fuhre ins Nachbarland Bolivien kostet uns 4500 Dollar. Dafür kann ich mehrere Container von China nach Argentinien schippern.“ Choi war 1977 als zwölfjähriger Bursch nach Argentinien eingewandert, aus einem damals noch bettelarmen Südkorea. Er begann mit seinem Vater als Einspeicher für eine Fahrradfabrik. Heute, nach einer Tellerwäscherkarriere beim Multi Daewoo, ist er einer der wichtigsten Unternehmer der Elektrobranche eines Landes, das sich mehr Feiertage leistet als alle anderen Staaten der Welt. Auch das ist ein Faktor des „costo argentino“.

Tatsächlich gab es zwei Versuche, den Pampa-Protektionismus zu beenden – beide waren radikale Schnitte, und beide endeten fatal. Die Militärdiktatoren in den späten 1970ern und der liberale Carlos Menem schliffen jäh sämtliche Handelsschranken und ließen zu, dass Importe das Land mit seiner stets überbewerteten Währung fluteten. Veraltet und chronisch unterkapitalisert konnte die argentinische Industrie nichts entgegensetzen.

Die Konsequenzen waren fatal. Die Militärs hinterließen eine gigantische Inflation. Und auf die Import- und Korruptionsfiesta der 1990er folgten drei Jahre Rezession und Massenarbeitslosigkeit. Als Argentinien 2001 bankrott ging, gab es im ganzen Land keinen Betrieb mehr, der Reißverschlüsse produzierte. Erst nach der Abwertung um 300 Prozent konnten argentinische Produzenten wieder beginnen und dank günstiger Preise ein paar Jahre lang erfolgreich exportieren. Doch 2006, als die Inflation schon wieder zweistellig war, begann die alte Abschottungsoper von neuem. In den acht Jahren unter Cristina Kirchner geriet etwa das Fahren von importierten Autos zum Geduldspiel. Oft dauerte es Monate, bis manche Ersatzteile bereitstanden – zu Wucherpreisen, weil zumeist grau importiert.

Mauricio Macri, der aus einer der reichsten Industriellenfamilien des Landes stammt, versucht nun, Freihandel in Raten einzuführen. Im Oktober wurde bekannt, dass Ende März die 35 Prozent Zollaufschläge für importierte Computer fallen sollen. Das werde die Preisunterschiede zu den Nachbarn bald aufheben, erklärte Finanzminister Alfonso Prat-Gay, der zudem in Aussicht stellte, dass andere Produktgruppen folgen sollen.

Doch zu Beginn dieser Woche musste Prat-Gay seinen Hut nehmen. Es habe „Meinungsverschiedenheiten“ gegeben, lautete die Begründung. Trotzdem will Argentiniens Präsident Macri an der Öffnungspolitik festhalten. Womöglich kommt diese aber zu spät. Die Wahl Donald Trumps war der Tiefpunkt eines schlechten Jahres für den freien Handel. Nach einer Studie der Welthandelsorganisation WHO wurden allein innerhalb der G20-Staaten 85 Regelungen erlassen, die den freien Warenaustausch einschränken. Gleichzeitung wurden nur 66 Erleichterungen vereinbart.

Einkaufstour in Chile

Sollte Trump seine Ankündigungen auch nur halbwegs umsetzen, müsse Argentiniens Regierung wohl umsteuern, befürchtet Miguel Kiguel, einst Chefökonom der Weltbank und heute Direktor der Beratungsfirma Econ Views: „Viele Länder dürften auf protektionistische Maßnahmen der USA reagieren. Das könnte die Regierungspläne einer schrittweisen Öffnung durchkreuzen.“

Am Tage Mariae Empfängnis kam auf einem bunt dekorierten Schlitten der Weihnachtsbaum nach Buenos Aires. Das Publikum am Straßenrand freute sich, die Kinder schleckten Eis, wie üblich, wenn der Hochsommer kommt. Doch weihnachtliche Stimmung kam vor allem jenseits der hohen Berge auf. Im Costanera Center, dem größten Shoppingcenter Südamerikas in Santiago de Chile, wo viele Weltmarken, die sich aus Argentinien zurückzogen oder niemals dort landen wollten, ihre Outlets haben. Am verlängerten Wochenende füllte der argentinische Singsang das Mega-Einkaufszentrum. Sechs von zehn Kunden waren Besucher von drüben. 40 Prozent mehr Argentinier als am gleichen Wochenende vor einem Jahr stürmten die Geschäfte, erklärte die Leitung des Einkaufsparadieses. Schon ehe die Läden öffneten, waren ganze Familien mit leeren Koffern vor den Eingangstüren gestanden. Die Migrationsbehörden des Andenlands registrierten heuer schon mehr als doppelt so viele Einreisen von Argentiniern wie im Vorjahr. Argentiniens Protektionismus ist wahrlich ein Segen – für die Wirtschaft des Nachbarlandes.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.12.2016)

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