Die deutschen Terrorfahnder haben Anis Amri unterschätzt

Anis Amri, der Attentäter von Berlin.
Anis Amri, der Attentäter von Berlin.(c) APA/AFP/FETHI BELAID
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Die Ermittler wussten seit Monaten, dass der Berlin-Attentäter Kontakt zum IS hatte und Bomben bauen wollte. Das führt auch zu politischen Verwerfungen.

Berlin. Hätte der Terroranschlag am 19. Dezember vor der Berliner Gedächtniskirche verhindert werden können? Die jüngsten Erkenntnisse stellen den Sicherheitsbehörden zumindest kein gutes Zeugnis aus.

Demnach haben sich die Terrorfahnder in mehreren Gremien mindestens 13 Monate lang mit der Frage beschäftigt, wie gefährlich Anis Amri, der spätere Attentäter von Berlin, wirklich ist. Man wusste seit Februar, dass der 24-jährige Tunesier in Kontakt mit der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) stand. Dass er sich Waffen für einen Anschlag in Deutschland besorgen wollte. Und dass er nach Komplizen suchte. All das geht aus Unterlagen des Staatsschutzes hervor, aus denen „Süddeutsche Zeitung“, NDR und WDR zitierten.

Seit dem 17. Februar 2016 wurde Amri von den Ermittlern als „Gefährder“ eingestuft. Die Hinweise waren von einem V-Mann in der Islamistenszene und dem marokkanischen Geheimdienst DST gekommen. Außerdem hatte man Amris Mobiltelefon sichergestellt. Die Auswertung ergab unter anderem, dass er nach Anleitungen zum Bau einer Rohrbombe gesucht hatte.

Das Landeskriminalamt Düsseldorf teilte den anderen Sicherheitsbehörden dazu Folgendes mit: Es sei davon auszugehen, dass Amri seine Anschlagspläne „ausdauernd und langfristig“ verfolgen werde. Im Juli – Amri war mittlerweile nach Berlin weitergezogen – regte das dortige Landeskriminalamt eine dringende Abschiebung an: wegen Gefahr im Verzug. Doch eine Arbeitsgruppe im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) ließ diese These nach einer zweitägigen Sitzung wieder fallen.

Gab es Komplizen?

Wie es dazu kam, und was danach geschah, ist Gegenstand interner Ermittlungen. Während die Behörden noch damit beschäftigt sind, die Schwachstellen im System aufzudecken, ließ die Bundesanwaltschaft am Dienstagabend ein Asylquartier in Berlin durchsuchen. Dort wurde ein 26-jähriger Tunesier vermutet, mit dem Amri „in zeitlicher Nähe zum Anschlag“ Kontakt hatte.

Mittlerweile ist der Mann in Haft – allerdings wegen Sozialbetrugs. Die Verdachtsmomente im Hinblick auf ein Treffen mit Amri am Vorabend der Tat reichten nicht für einen Haftbefehl aus, teilte die Bundesanwaltschaft am Mittwoch mit. Dafür lieferte die italienische Polizei einen Beweis: Die Waffe, mit der Amri vor seinem Tod auf Polizisten in Mailand geschossen hat, ist die Tatwaffe von Berlin. Mit ihr wurde der polnische Lkw-Fahrer erschossen.

Die Regierung ist einen Schritt weiter als die Ermittler: Sie diskutiert bereits über Konsequenzen. Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ am Mittwoch ausrichten, dass sie die Vorschläge von Innenminister Thomas de Maizière für einen Umbau der deutschen Sicherheitsarchitektur unterstütze. De Maizière hat angeregt, die Bundespolizei und das Bundeskriminalamt mit mehr Kompetenzen auszustatten. Außerdem will er den Verfassungsschutz beim Bund konzentrieren und die Landesämter abschaffen. Die Abstimmungen zwischen den Behörden, argumentierte der Innenminister im ZDF, seien „nicht gut genug“, das habe der Fall Amri gezeigt. „Die Abschiebehaft für ausreisepflichtige Gefährder – das muss schneller gehen.“

Seehofer gegen Merkel

Doch in den Bundesländern gibt es großen Widerstand, nicht zuletzt in Bayern. „Ich kann Ihnen nur sagen: Eine Auflösung des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz wird niemals kommen“, stellte Ministerpräsident Horst Seehofer am Mittwoch, kurz vor Beginn der dreitätigen Winterklausur der CSU im Kloster Seeon, klar.

Stattdessen verlangt er eine Obergrenze von 200.000 Asylanträgen im Jahr (für ganz Deutschland). Das wiederum ist für Merkel ein No-go. Wie es im Hinblick auf die Bundestagswahl im September zu einer Einigung zwischen Merkels CDU und Seehofers CSU kommen soll, um als Union antreten zu können, ist weiterhin offen. Anfang Februar ist an und für sich ein Versöhnungsgipfel in München geplant. Davor will Seehofer aber eine programmatische Einigung.

Gleichzeitig warnte er seine Partei am Mittwoch davor, bei der Bundestagswahl auf eine Niederlage der Union zu setzen, um bei der bayrischen Landtagswahl 2018 gegen eine rot-rot-grüne Koalition im Bund antreten und auf diese Weise die CSU-Absolute verteidigen zu können. Das sei eine „kindliche Vorstellung“, so der Ministerpräsident. Die CSU brauche eine starke CDU in Berlin, sonst werde sie selbst geschwächt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.01.2017)

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