Analyse

Vorsicht vor Fetischismus mit falschen Zahlen

(c) imago/Thomas Müller
  • Drucken

Die These von der "säkularen Stagnation" macht die Runde. Ökonom Thomas Straubhaar erklärt, warum er den damit verbundene Pessimismus für übertrieben hält.

Die These von der "säkularen Stagnation" macht die Runde. Dieser Beitrag argumentiert, dass der damit verbundene Pessimismus übertrieben sei, da die Effekte des digitalen Umbruchs grösstenteils noch nicht Eingang in die volkswirtschaftlichen Zahlen gefunden haben.

Ein Gespenst geht um in der Weltwirtschaft. Die "Säkulare Stagnation" sei das Los der Zukunft. Den Volkswirtschaften stehe eine lange Phase von Nullwachstum bevor. So die Prognose einer ganzen Reihe führender Makroökonomen. Grund für deren Pessimismus ist, dass zu viel gespart und zu wenig investiert werde. Die Sparer würden niemanden finden, der ihr Geld nimmt, um es in innovative Projekte zu stecken, die zu mehr Dynamik führen. Ein Sparüberhang sei die Folge. Er – und nicht etwa die geöffneten Geldschleusen der Zentralbanken – seien für die historisch tiefen Zinsen verantwortlich.

Kooperation

Die ohnehin bereits düsteren Zukunftsaussichten werden durch aktuelle politische Turbulenzen zusätzlich verschlechtert. Mit Donald Trump im Weißen Haus drohen Abschottung und Handelskriege. Der angekündigte aber noch völlig unorganisierte Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union erzeugt Unsicherheit in Europa. Die Wahlen in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland sorgen für politische Spannungen. Terroranschläge verängstigen die Bevölkerungen. Wahrlich keine guten makroökonomischen Voraussetzungen für 2017.Dieser Artikel wurde für "Ökonomenstimme", die Internetplattform für Ökonomen im deutschsprachigen Raum, erstellt. Die Presse ist exklusiver Medienpartner der Ökonomenstimme.

Bevor man sich völlig kirre machen lässt von all den schlechten Nachrichten und Horrorszenarien, ist es höchste Zeit, sich von dem Zahlenfetischismus zu lösen, der Wirtschaftsprognosen innewohnt. Dann zeigt sich, dass zwar vieles unklar, unsicher und schwierig ist, aber eben auch lösbar bleibt. In keiner Weise ist eine Untergangsstimmung gerechtfertigt, wie sie von den Stagnationspessimisten geschürt wird. Im Gegenteil: Die Zukunft und damit auch 2017 können weit besser werden, als viele befürchten.

Das Gespenst der "säkularen Stagnation" ist immer wieder aus dem Sarg der Geschichte geholt holten. Bis anhin immer zu Unrecht. Warum sollte es dieses Mal anders werden? Wenn Zeiten schlechter wurden, wie in der Zwischenkriegszeit des letzten Jahrhunderts oder nach dem Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit, sorgten Basisinnovationen – wie größere oder schnellere Transportmittel, modernere Kommunikation und Nachrichtenverarbeitung oder energie- und ressourcensparende Produktionsprozesse für neuen Schwung.

Die Digitalisierung ist die Basisinnovation der Gegenwart. Sie wird in Zukunft für ein Wirtschaftswachstum sorgen, dessen Dimension in den herkömmlichen Daten zur Messung des Wirtschaftswachstums nicht einmal ansatzweise erfasst wird.

Wirtschaftsstatistik hängt hinter her

Es war immer schon ein grundsätzliches Problem der Wirtschaftsstatistik, dass sie zunächst nicht in der Lage ist, die Folgeeffekte von Basisinnovationen abzubilden. Wie auch? Amtliche Statistiken erheben Daten zwangsläufig auf veralteten Grundlagen. Es kann nur Bekanntes gemessen werden, wofür es "Klassifikationen" gibt. Das Neue ist so unbekannt, dass es -mindestens zu Beginn – nicht mit gängigen Konzepten erfassbar ist. Berühmt geworden ist ein Ausspruch von Nobelpreisträger Robert Solow aus dem Jahr 1987: "Überall sind Computer zu sehen, nur nicht in den Statistiken der Produktivitätsmessung". Niemand würde heute widersprechen, dass der Computer langfristig flächendeckend für immense Wachstumsimpulse sorgte.

Gestern war es der Computer, heute ist es die Digitalisierung, die in fundamentaler Weise die Welt verändert. Wenig bis nichts von der Tiefe und Breite der Folgeeffekte spiegelt sich in den Daten wieder, die das Wirtschaftswachstum messen. Die Verlagerung von physischen Produkten in virtuelle Räume bleibt im Bruttoinlandprodukt (BIP) noch mehr oder weniger unberücksichtigt. Wenn kostenpflichtige Printmedien durch frei zugängliche e-papers ersetzt werden, kann das BIP sogar sinken, obwohl der Nutzen und damit der Wohlstand steigen, weil mehr Menschen billiger, schneller und einfacher Zugang zu Informationen finden.

Für viele mit der Digitalisierung verbundenen Neuerungen fehlen schlicht (noch) die Maßzahlen. Informationsgüter mit Netzwerkcharakter werden bestenfalls teilweise erfasst. Das gilt besonders für Daten, die Kunden Internetfirmen wie Google, Facebook oder Amazon - willentlich oder nicht - mehr oder weniger kostenlos zur Verfügung stellen. Oder wenn moderne Apps eine Sharing Economy und damit eine weitaus effizientere Nutzung vorhandener Güter, Autos oder Wohnungen ermöglichen. Wenn Private Online-Dienstleistungen erstellen, die von anderen kostenlos genutzt werden können, wie beispielsweise Wikipedia-Einträge oder Youtube-Filme, dann kommt es rein statistisch zu perversen Effekten: Obwohl der Nutzen steigt, fällt das BIP, weil weniger Lexika oder DVDs gekauft werden.

Verengter Fokus auf physische Produkte

Wenn die Stagnationspessimisten postulieren, dass zu wenig investiert und zu viel gespart würde, vergessen sie, dass im BIP nur als "Investition" verbucht wird, was in physischen Anlagegütern, wie Maschinen, Apparaten, Hard- oder Software daherkommt. Damit fallen Anstrengungen unter den Tisch, die zu mehr Wissen in den Köpfen der Menschen führen. Bildungsausgaben erscheinen nämlich nicht in den Investitionsstatistiken. Ein schwerwiegender Mangel, wenn im Zeitalter der Wissensgesellschaft das Humankapital mehr und mehr zum mikro- wie makroökonomischen Erfolgsschlüssel wird.

Die "Entdinglichung" liefert auch eine Erklärung dafür, wieso heute scheinbar von den Firmen so wenig investiert wird. Im Zeitalter der Digitalisierung liegt der Fokus weniger bei Maschinen und mehr bei Köpfen, Netzwerken, Algorithmen und Daten. Sie alle werden – wenn überhaupt –in den gängigen Investitionsstatistiken unzureichend erfasst. Und wenn Firmen ihre Belegschaften weiterbilden, umschulen und fit machen für die Digitalisierung, tragen auch diese Anpassungsreaktionen statistisch nur soweit zum Wirtschaftswachstum bei, als externe Kosten entstehen. Sie sind aber unverzichtbare Voraussetzungen dafür, um künftig von den Chancen der Digitalisierung optimal profitieren zu können, was dann - aber eben erst in Zukunft - wiederum das Wirtschaftswachstum stimulieren wird.

Die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums hat wenig mit einem langfristigen Trend zu tun. Sie ist vor allem ein statistisches Phänomen, wie es typisch ist für Zeiten fundamentaler technologischer Veränderungen. Ohne eine Neuvermessung der Digitalisierungseffekte führen gängige Wirtschaftsstatistiken in die Irre. Sie liefern keine überzeugenden Gründe für einen Zukunftspessimismus und dafür, mit alten Gespenstern immer wieder von Neuem für Verunsicherung zu sorgen.

Der Autor

Thomas Straubhaar ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftspolitik, der Universität Hamburg. Er ist Direktor des Instituts für Integrationsforschung des Europa-Kolleg Hamburg und Kuratoriumsmitglied der Friedrich-Naumann-Stiftung. Seit 2010 ist er Fellow der Transatlantic Academy in Washington DC.

Straubhaars Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Internationale Wirtschaftsbeziehungen, Ordnungspolitik sowie Bildungs- und Bevölkerungsökonomie. Für seine Tätigkeit hat er verschiedene Auszeichnungen erhalten: u.a. das Helmut Schmidt-Stipendium der ZEIT-Stiftung an der Transatlantic Academy in Washington (2009).

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.