Mehrgenerationenhaushalt

Alt und Jung an einem Tisch: Wer kriegt das größte Schnitzel?

Andrea Vyslozil
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»Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.«

Sokrates

Die Panier ist perfekt. Goldbraun und heiß ummantelt sie das Schnitzel. Das helle Fleisch, es ist nur wenige Millimeter dünn. Prädikat extrazart. Niemand macht Wienerschnitzel so gut wie „Oma“ Christine, findet der 13-jährige Wendelin. Jetzt ist er bereit für das Zweite. Christine holt die Servierplatte. Papa Werner will auch noch einen Nachschlag. Er ist ein großer, schlaksiger Mann mit Brille und Bart und einem feinen Humor. Es sei ja nicht so, dass sie hier jeden Sonntag koche, sagt Christine. Und Schnitzel erst recht nicht. „Das gibt es eigentlich nur zu besonderen Anlässen wie Weihnachten oder zu Geburtstagen“, erzählt Christines Tochter Maria. Als Vegetarierin isst sie statt Fleisch gebackenen Sellerie. Maria sitzt am großen Tisch in der Landhausküche Christine gegenüber, neben Werner. Zu Werners Rechten sitzt Tochter Gerrit, 16 Jahre jung, lange, aschblonde Haare, freundliches Lachen.

Werner ist Marias Lebensgefährte. Wendelin und Gerrit sind Werners Kinder aus früherer Beziehung. Fünfzig Prozent der Zeit verbringen sie bei ihrer Mutter, fünfzig Prozent bei Werner und Maria, in dem kleinen Ort an der niederösterreichisch-slowakischen Grenze, wo die Landschaft flach ist und grün. Die Familie bewohnt ein großes, einstöckiges Haus, in dem auch Marias Mutter Christine und Marias 89-Jährige Großmutter Serafine, Spitzname „Sella“, leben. Jede Generation hat ihren eigenen abgetrennten Bereich. Außerdem leben im Haus zwei Hunde und acht Katzen. Maria ist Tierärztin, immer wieder landen tierische Findelkinder bei ihr. „Wir sind eine fröhliche, bunte Patchworkfamilie“, sagt sie. Maria ist eine bodenständige Frau mittleren Alters mit grau-meliertem Pferdeschwanz.

Großfamilien wie Marias, die gemeinsam in einem Haus leben, werden laut Statistik Austria langfristig immer weniger. Von den 3,8 Millionen österreichischen Haushalten sind nur rund 90.000 Mehrgenerationenhaushalte, also solche, wo drei oder mehr Generationen zusammenleben. Dafür ist die Zahl der Singlehaushalte in den vergangen Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen: Gab es im Jahr 2000 in Österreich 977.000 Ein-Personen-Haushalte, so sind es heute 1,4 Millionen. Die durchschnittliche Haushaltsgröße liegt heute bei 2,2 Personen. Die Städte sind voller Singlehaushalte, Großfamilien, die zusammen leben, gibt es, wenn überhaupt, eher in ländlichen Gebieten. Während im Burgenland und in der Steiermark knapp vier Prozent aller Haushalte drei oder mehr Generationen beherbergen, sind es in Wien nur 1,5 Prozent. In Deutschland sehen die Zahlen ähnlich aus.

Glücklich mit Abstand

Was erstaunlich ist: Viele Menschen würden sich wünschen, mit der Großfamilie zusammen zu leben, hat kürzlich eine Umfrage des deutschen Meinungsforschungsinstituts YouGov ergeben. 44 Prozent der Deutschen wünschen sich demnach mit mehreren Generationen zusammenzuleben. Stimmt das auch für Österreich? Nein, meint Franz Kolland, Professor für Soziologie und Gerontologie an der Universität Wien. Sein Forschungsschwerpunkt ist das Thema „Familie, Generationen und Gesundheitsförderung“. Kolland glaubt nicht an die Zahlen aus der deutschen Umfrage. Laut eigener Erhebung wünschten sich nur etwa drei bis vier Prozent der Menschen, als Erwachsene mit Eltern oder Schwiegereltern zusammenzuwohnen. Das romantische Bild, von Jungen und Alten, die idyllisch zusammenleben, zieht Kolland in Zweifel: „In der heute zunehmend urbanisierten und individualisierten Gesellschaft funktionieren familiäre Beziehungen nur mit dem ausreichenden Maß an Abstand“, sagt der Soziologe.

„Ich glaube, dass unser Zusammenleben unter anderem deshalb so gut funktioniert, weil wir es freiwillig so gewählt haben“, gibt Maria zu bedenken. Hätte sich die Wohnsituation durch eine finanzielle Zwangslage ergeben oder gebe es keine Rückzugsbereiche, sehe die Sache anders aus. So aber sieht man sich eben, wenn man sich sehen will. Zu besonderen Anlässen ist das fast immer der Fall. Heute hat zwar niemand Geburtstag. Wienerschnitzel gibt es dennoch. Christine braucht nämlich die Unterstützung der Jungen für ein besonderes Projekt. Kurze Haare, feste Stimme: die resche Pensionistin, die lieber anpackt als herumsitzt, engagiert sich für Flüchtlinge und im örtlichen Kulturverein. Dort ist sie für das Thema Kulinarik zuständig. Kommende Woche organisiert sie für den Verein ein gemeinsames Essen. Weil das Auge bekanntlich mitisst, darf da geschmackvolle Tischdekoration nicht fehlen. Christine hat einen Korb Orangen und ein großes Glas Gewürznelken mitgebracht. Tochter, Schwiegersohn und die Kinder sollen helfen, die Orangen mit Gewürznelken zu spicken. Als Lohn für die Bastelunterstützung hat sie das kollektive Lieblingsessen gekocht.

Bis vor wenigen Jahren mochte er Schnitzel nicht, erzählt Wendelin. Aber seit er Christine kennt, ist das anders. Heute ist Schnitzel sein Lieblingsgericht. Wendelin ist ein intelligenter, aufgeweckter Bursche mit blonden Haaren und neugierigem Blick. Unter dem Tisch wirft er der Borderterrier-Hündin Tota ihren Lieblingsball, den sie immer und immer wieder apportiert. Gerrit, Maria und Werner widmen sich unterdessen den Orangen. Auf dem langen Esstisch liegen überall kleine Häufchen von duftenden Gewürznelken. Maria bestückt ihre Orange in Schneeflockenform. Werner hat der Ehrgeiz überkommen, er arbeitet an einer Krippe samt Engel und Esel.

Unterstützung von außen

Serafine hat das heutige Mittagessen mit anschließender Bastelstunde ausgelassen. Lieber ist sie in ihrer kleinen Wohnung geblieben, um einen Film zu schauen. Serafine, die zierliche Frau mit den weißen Haaren, sitzt in einem Fauteuil vor dem, für junge Ohren viel zu laut aufgedrehten Fernseher. Im Kamin brennt ein Feuer, das kleine Wohnzimmer ist so warm, dass man es kurzärmlig aushält. Im Raum nebenan klappert Geschirr. Sella ist nicht alleine. Eine 24-Stundenpflegekraft unterstützt sie in ihrem Alltag. Gerontologe Kolland hält das für eine vernünftige Lösung, denn „wir haben eine lange Tradition der Forschung, wonach Coresidence, also das Zusammenleben mehrerer Generationen, keine günstigen Pflegebedingungen schafft“. Unterstützung durch Kinder und Enkelkinder in unmittelbarer Nähe sei zwar begrüßenswert. „Ein pflegebedürftiger Angehöriger, um den man sich ohne externe Unterstützung kümmert, nimmt jedoch viel Zeit und Energie in Anspruch“, so der Experte. Nicht selten führe das mit der Zeit zu Überforderung und Frust.

„So lange sie nicht bettlägerig ist, holen wir sie sonst immer gerne dazu, auch bei jedem Geburtstagsessen ist sie dabei“, sagt Christine. Körperlich ist ihre Mutter noch ziemlich fit. Im Sommer sitze Sella gerne draußen im gemeinsamen Garten. Hier trifft man sich: Christine und Werner pflegen dann die Gemüsebeete, Wendelin liegt am liebsten in der Hängematte. Und die 89-jährige Sella? „Meist weigert sie sich einen Hut aufzusetzen“, erzählt Maria. Deshalb soll sie mit ihrem Sessel im Schatten sitzen. „Aber die Oma ist listig. Immer wenn sie glaubt, dass niemand herschaut, rutscht sie mit dem Sessel ein kleines Stück in die Sonne“.

Was können die verschiedenen Generationen voneinander lernen? Wo hilft man sich gegenseitig aus? „Ich bin glücklich, dass ich die beiden habe“, sagt Christine über Gerrit und Wendelin. „Weil wenn ich mit meinem Laptop oder meinem Handy Schwierigkeiten habe, dann komm ich immer zu ihnen.“ Und umgekehrt? „Wenn ich mal krank bin, kümmert sich die Christine um mich und macht mir einen Tee“, sagt Wendelin. „Wendel, du magst doch gar keinen Tee“, unterbricht ihn Gerrit. „Du bist ja wohl nicht ganz wach, ich liebe Tee“, kontert der Bruder. Die Kinder seien eh schon groß, sagt Werner. „Dennoch ist es ein gutes Gefühl zu wissen, sie sind nicht allein.“ Dass jemand da sei, wenn sie etwas brauchten.

Efeuschneiden für Küchenmaschine

Gerrit stellt sich mit der Orange besonders geschickt an. Eine erste hat sie schon verziert, jetzt greift sie nach der nächsten. Zwischendurch nimmt sie sich ein Keks. Apropos Teig. Dem Werner hilft Christine gelegentlich beim Backen. Sie war es auch, die ihn von den Vorzügen einer Küchenmaschine überzeugt hat. Inzwischen leiht er sich ihre regelmäßig aus. „Das ist genau sowas“, erklärt Werner: „Man braucht nicht zwei Küchenmaschinen“. Wolle man sich etwas ausborgen, gehe man einfach schnell rüber und frage freundlich. „Was ich außerdem sehr angenehm finde, ist, dass die Christine die komplette Organisation übernimmt, von der Müllabfuhr bis zum Handwerker“, erzählt Werner. „Das ganze Haus würde nicht so funktionieren, wenn die Mama nicht wüsste, wo jeder Knopf und jeder Schalter ist und wie man die bedient“, bestätigt Maria. „Naja“, sagt Christine, „ich bin ja zuhause, ich hab ja Zeit“. Werner, gerade mit Nelken in Kometenform beschäftigt, räume im Gegenzug im Herbst die Dachrinnen aus, schneide den Efeu und schlichte Brennholz. Maria: „Das hat sich alles einfach so ergeben, wir haben uns nie aktiv hingesetzt und Aufgaben verteilt.“ Wieder Gelächter.

In diesem Haus wird viel gelacht. Überhaupt geht es sehr harmonisch zu. Wird denn hier nie gestritten? Es stimmt, in den meisten Dingen sei man sich einig, sagt Christine. Gestritten werde maximal über Kleinigkeiten und selbst da versöhne man sich schnell. Kaum Streit trotz engem Zusammenleben, wie ist das möglich? Coresidence-Experte Kolland weiß um die Ursache der Harmonie: „Ein Haus einer Großfamilie, das in separate Wohnungen unterteilt ist, bietet Rückzugsorte. Leben die verschiedenen Generationen hingegen ohne Trennung in einem Haushalt, kommt es zu Konflikt.“ Zwischen den Generationen, erklärt er, gebe es meist Werteverschiebungen, die erst durch das unmittelbare Zusammenleben sichtbar würden. Das äußere sich dann in ganz banalen Alltagssituationen. Kolland erzählt von einem Tochter-Schwiegermutter-Gespann, das sich an sich gut verstanden habe, bis die beiden gezwungen waren, sich eine Küche zu teilen. „Sie hatten ein grundverschiedenes Verständnis von gesund oder ungesund und stritten über den Einsatz von exotischen Gewürzen“, so der Gerontologe. Auch ungleiche Vorstellungen richtiger Kindererziehung böten im Mehrgenerationenhaushalt Stoff für Konflikt.

Das Häufchen mit den Nelken ist jetzt fast aufgebraucht. Wie ist das mit dem Zusammenleben wenn, die Stimmung einmal nicht so gut ist? Christines Mann ist vor einigen Jahren an einer Krankheit gestorben, für sie war es eine Umstellung. „Wenn es mir einmal nicht so gut geht, körperlich oder seelisch“, erklärt Christine, sei es angenehm zu wissen, dass sie nicht alleine in ihrem Haus sei. Zu wissen, dass da in unmittelbarer Nähe immer ein Ansprechpartner ist. „Und sei es nur, dass ich mich dazusetze.“ Sie kenne einige ältere Menschen, die alleine lebten und niemanden zum Reden hätten: „Die werden alle seltsam.“

Man gehe in dieser Form des Zusammenlebens anders mit den Menschen um, bestätigt auch Christine. Wenn sie nach einem langen Arbeitstag heimkomme und schlechte Laune hätte, könne sie nicht herumjammern. „Da musst du trotzdem noch irgendwie gemeinsam tun und auskommen.“ Sonst klappe nichts. Das erdet.

Die Küche duftet jetzt nach Orangen und Gewürznelken. Christine stellt Tee auf.

(Von Andrea Vyslozil)

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