Die menschliche Saite des Konzertflügels

Cheftechniker Knüpfer mit seinen Mitarbeiterinnen Braun (Mitte) und Siegl (rechts).
Cheftechniker Knüpfer mit seinen Mitarbeiterinnen Braun (Mitte) und Siegl (rechts).(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Nahe dem Praterstern arbeiten drei Klavierbauer am guten Ton. In der österreichischen Werkstatt des Hamburger Klaviergiganten Steinway werden die Instrumente wie betagte Patienten umsorgt – samt höchstpersönlicher DNA und Namen.

Wenn das hochsommerliche Salzburg noch in tiefem Schlaf liegt, steht Stefan Knüpfer auf der Bühne des Großen Festspielhauses und stimmt den schwarz glänzenden Steinway-Flügel. „Das ist unser Los“, sagt er. Bevor das Leben im Konzertsaal erwacht, sind die feinen Ohren des Klaviertechnikers gefragt. In der Salzburger Kulturhochsaison kann das auch um vier in der Früh der Fall sein.

Gemeinsam mit seinen Mitarbeiterinnen Heide Braun und Marianne Siegl ist der Wiener Cheftechniker des Hamburger Klaviergiganten Steinway für den Klang zwischen Eisenstadt und Bludenz zuständig. Oftmals auch darüber hinaus: Zu seinen Klienten zählen gefeierte Pianisten auf der ganzen Welt wie etwa Lang Lang.

Alle drei zur gleichen Zeit in ihrem gut verborgenen Technikcenter nahe dem Praterstern anzutreffen grenzt somit an ein Wunder. Geschieht es aber doch einmal, versteht selbst der nackteste Klavierlaie, warum hoffnungslose Fälle in Nachtaktionen aus Spanien und Frankreich für einen letzten Rettungsversuch nach Wien transportiert werden.


Patient aus Holz und Eisen.
Klaviere sind hier keine Klaviere. Sie sind Patienten aus Holz und Gusseisen. Mit einer hochpersönlichen DNA, Namen und sehr menschlichen Leiden. „Je älter sie werden, umso komplexer werden die Reparaturen. Wie beim Menschen geht die Krankheit immer weiter in die Tiefe“, erklärt Knüpfer. Aber genau diese Modelle seien ihnen am liebsten: die Härtefälle, die ganz Verschlissenen, die es zu neuem Leben zu erwecken gilt. Die Aufgabe der Wiener Klaviertechniker ist es, die aus Hamburg gelieferten neuen Teile so in einen Flügel von 1880 einzubauen, dass sie vom Instrument akzeptiert werden – „wie ein neues Organ“, betont Knüpfer.

Die Reparatur dauert mit einem bis eineinhalb Jahren in etwa so lang wie der Bau der Instrumente in ihrer Herkunftsstadt an der Elbe und kostet mehrere Zehntausende Euro. Rund fünf Modelle werden von Siegl, Braun und Knüpfer parallel gesund gepflegt. Gerade ist eines aus einer österreichischen Musikuniversität zu Gast. „Tausende von Klavierstunden sind in die Hammerköpfe hineingegangen“, sagt Knüpfer mit einem Blick auf die Tastatur. Die Elfenbeintasten, die sich unter Generationen von Musikschülern aufgelöst hatten, wurden durch Kunststoff ersetzt. Aber die DNA sei erhalten geblieben. Nur darauf kommt es an. Der Patient ist zu retten.

Der Verfall nimmt bei ständiger Benützung einen klassischen Verlauf: Er frisst sich immer weiter zum Herzstück des Klaviers, dem Resonanzboden aus Fichtenholz, vor. Zuerst versagt die Mechanik nach 20 bis 30 Jahren Spielens ihren Dienst. Nach weiteren Jahren folgen die Saiten, die Agraffen, schließlich reißen der Steg und der Holzboden. Ohne die intakte, nur wenige Millimeter dicke Fichtenplatte kann der Ton aber im obersten Bereich nicht die gewünschten 40.000 Mal pro Sekunde schwingen.

Dieser natürliche Alterungsprozess erschüttert die drei Experten wenig. Schlimmer sind die nicht sachgerecht reparierten Steinway-Flügel, die seit einigen Jahren von Osteuropa aus den Markt fluten und immer öfter ihren Weg in ihre Wiener Werkstatt finden. Wenn unzufriedene Kunden daraufhin monieren, dass der Ton nicht voll ist oder nicht lang nachschwingt, blickt Heide Braun, die Spezialistin für das Instrumenteninnenleben, in den Bauchraum. Wenn sie mit einem erschrockenen Gesichtsausdruck zurückweicht, wissen die anderen beiden mittlerweile sofort, was los ist.


Original oder Ramsch?
Die Geschichte ist simpel. Offensichtlich hat sich ein Parallelmarkt für die teuren Steinway-Flügel entwickelt. In einigen osteuropäischen Fabriken werden verschlissene Teile als Originale eingebaut. Auch viele gutgläubige Werkstätten in ganz Europa schicken ihnen die überantworteten Stücke „für die grobe Arbeit“. Dort wird der Druck im Flügel jedoch nicht lege artis in Kleinstarbeit wie in Wien nachgebaut, sondern wie bei fabrikneuen Instrumenten völlig neu definiert. Braun weiß aus eigener Erfahrung: „Das ist die Arbeit am Herzen. Wenn ich hier einen Fehler mache, ist er optisch nicht erkennbar. Erst beim Intonieren klingt der Ton nicht lang genug.“ Die Verstimmung der Kundschaft, die für viel Geld einen vermeintlich toprestaurierten Steinway-Flügel kauft, ist verständlich.

Oft wird der alte Holzboden durch die viel zu hohe Kraft, die Steg und Saiten auf ihn ausüben, sprichwörtlich erdrückt, erklärt Braun. Der Ton erstirbt. „Auch alte Menschen wollen weniger zu essen. Das Instrument klingt gut bis es zur Tür hinaus ist – und kollabiert dann beim Kunden.“ Wenn Heide Braun im Bauch des Klaviers ans Werk geht, kopiert sie den Steg hingegen eins zu eins. Jede Unebenheit, jeden Stift, jedes Loch fertigt sie minutiös nach. Im schlimmsten Fall ist sonst die DNA des Flügels unwiederbringlich dahin und kann selbst von den besten Klaviertechnikern nicht mehr rekonstruiert werden, erklären die drei. So ein verlorener Flügel steht zurzeit auch neben dem Modell aus der Musikuniversität. „Ist das denn Steinway?“, fragt Knüpfer rhetorisch und schlägt einen selbst für Laienohren dumpfen Ton an. „Nein“, antwortet er resolut. „Für uns ist dieser Flügel null wert.“ Das müsse er auch den Kunden leider immer wieder schonend beibringen.

Das Langzeitrisiko.
Knüpfer fürchtet die schleichenden Langzeitfolgen für Steinway. In Hamburg werden jährlich 500 neue Instrumente gebaut. Von den rund 600.000 Stück, die seit der Firmengründung 1853 gefertigt wurden, ist schätzungsweise noch die Hälfte am Leben. Wenn der Schwarzmarkt im jetzigen Tempo weiterwachse, werde irgendwann das Original überlagert, meint Knüpfer. Dann wird der falsche Steinway-Ton zum guten Ton.

Im Wiener Technikcenter wird an den Qualitätsstandards festgehalten werden. Und an der menschlichen Seite der hölzernen Patienten. Jeder Flügel trägt den Namen seines Besitzers. Hat er bereits den zweiten, bekommt er einen Doppelnamen, sagt Braun mit einem Lachen. So läuft das hier in der Steinway-Ambulanz.

Das Unternehmen

Steinway & Sons
wurde von dem deutschen Klavierbauer Heinrich Engelhard Steinweg 1853 in Manhattan gegründet.

Heute werden die Flügel und Klaviere der Firma in Hamburg und New York gefertigt.

Mit dem Steinway-Haus am Wiener Ring eröffnete der Klavierbauer 1997 seine Generalvertretung in Österreich. Die Arbeit hinter den Kulissen geschieht jedoch im Technikcenter im 2. Wiener Bezirk.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2017)

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