Historischer Rückblick: Was die Geschichte geheilt hat, wird erneut bedroht

In der Debatte um die Grenze zwischen Irland und Nordirland spielt für beide Seiten die Sorge um den Friedensprozess zwischen Katholiken und Protestanten eine zentrale Rolle.

London. Über exakt 499 Kilometer erstreckt sich in einem wirren Zickzack die Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland. Als „ein Labyrinth aus Sümpfen und Flüssen, das sowohl Schmugglern als auch Zollbeamten ein erträgliches Leben beschert“, bezeichnete sie einst der Schriftsteller Garrett Carr. Den genauen Grenzverlauf kennt niemand, doch da hier mit dem Brexit eine EU-Außengrenze entsteht, werden bald genaue Festlegungen unausweichlich sein.

Damit drohen Wunden wieder aufzureißen, die bis auf die Zeit der Loslösung Irlands vom Vereinigten Königreich Anfang des 20. Jahrhunderts zurückreichen. Es war ein gewaltsamer und für beide Seiten schmerzhafter Prozess gewesen, der nach einem dreijährigen Aufstand 1919-1921 schließlich in der Unabhängigkeitserklärung Irlands 1922 geendet hatte. Der damals proklamierte Irish Free State umfasste 26 der 32 Grafschaften der Insel. Die sechs Regionen, die bis heute die Provinz Nordirland (Ulster) bilden, waren schon damals ausgenommen.

Mögen die Iren sich weltweit gerne als ein sentimentales Volk verkaufen, sind sie doch in Wahrheit mindestens so pragmatisch wie ihre einstigen englischen Herrscher: Bereits im Februar 1923 einigten sich Dublin und London auf eine „Common Travel Area“, die in ihren wesentlichen Grundzügen freien Personenverkehr zwischen Irland und dem Vereinigten Königreich für die Bürger beider Staaten sicherstellte und bis heute in Kraft ist. Die Grenzregion wurde damit zu einer Grauzone, deren Durchlässigkeit die Trennung von Familien und Kommunen verhinderte, die aber auch, wie von Carr beschrieben, zu einem Hinterland für allerhand finstere Gestalten wurde.

Bürgerkrieg und Grenzschutz

Nach Ausbruch des Bürgerkriegs in Nordirland in den späten 1960er-Jahren versuchte die britische Armee mit Absicherung der Grenze, den aufständischen irischen Republikanern sowohl den Rückzugsraum als auch den Nachschub aus dem Süden abzuschneiden. Meist vergeblich. Erst nach Jahren am Verhandlungstisch konnte 1998 mit dem Karfreitagsabkommen ein nachhaltiger Friedensprozess eingeleitet werden. Zu seinem äußeren Symbol wurde die Entfernung von Befestigungsanlagen und Wachtürmen. Wer heute einen der 300 Übergänge überquert, wird sich das erste Mal bewusst, dass er eine Grenze überschritten hat, wenn er in Nordirland in britischen Pfund oder in der Republik Irland mit Euro bezahlen muss.

Damit wurden auf dem Boden und im Alltag der Menschen Fakten geschaffen, die der Brexit nun wieder zu zerreißen droht. Der irische Regierungschef (Taoiseach), Leo Varadkar, hat längst klargemacht: „Wir wollen keine Grenze, und wir werden den Brexit-Anhängern nicht den Gefallen tun, uns ihre Arbeit anzutun“. Stattdessen hat Irland es in einem diplomatischen Coup geschafft, sein Anliegen zu einer der Prioritäten der gesamten EU in den Brexit-Verhandlungen zu machen. Es zahlt sich aus, mächtige Freunde zu haben – oder eben nicht. Diese Erfahrung machen nun sowohl Dublin als auch London.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.08.2017)

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