"Will EU Selbstmord begehen, sind Referenden die Waffe der Wahl"

Clemens Fabry
  • Drucken

Direkte Demokratie mache die EU regierungsunfähig, argumentiert der bulgarische Politologe Ivan Krastev. Die Flüchtlingskrise habe auf Europa den gleichen Effekt gehabt wie 9/11 für die USA.

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev ist sich sicher: Die Europäische Union, so wie sie seit 1989 existiert hat, gibt es nicht mehr. Als Hauptgrund dafür sieht er die Flüchtlingskrise. Er zieht dabei einen drastischen Vergleich: Genauso wie die Terroranschläge vom 11. September 2001 die Sicht der USA auf Globalisierung und ihren Platz in der Welt gewandelt haben, habe auch die Migrationskrise die Entwicklung der EU und ihrer Mitgliedsstaaten zutiefst verändert - noch mehr als die Eurokrise wenige Jahre zuvor, sagte Krastev im Gespräch mit "Presse"-Außenpolitik-Chef Christian Ultsch im Politischen Salon des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen am Montag in Wien.

Ein Hauptargument Krastevs: Die Flüchtlingskrise habe die demokratischen Institutionen, die Europa in den vergangenen Jahrzehnten etabliert habe, in Frage gestellt. Denn unter anderem habe sie Populisten zu Aufschwung verholfen: Populistische Politiker würden Wählern das Gefühl geben, noch immer "Teil des Spiels" zu sein, meint Krastev. Er vergleicht Populisten mit einem 3D-Kino. Sie unterschieden sich von anderen Politikern nicht so sehr durch ihre Sicht auf die Zukunft, sondern durch ihre "dreidimensionale Sicht" auf Politik. "Die Menschen sind zwar immer nur noch Zuschauer, aber sie haben das Gefühl, dabei zu sein."

Hier kommen Referenden ins Spiel. Krastev ist ein Skeptiker der direkten Demokratie. Wie die Koalitionsverhandlungen in Österreich zeigten, würden mittlerweile auch Mainstream-Parteien diese Mittel direkter Demokratie für sich beanspruchen. Politische Parteien glaubten, dass sie durch Referenden mehr politische Legitimität erlangen könnten, argumentiert Krastev. So wollten sie die Menschen überzeugen, dass sie sich um die Bürger kümmern. Doch: Die EU werde nicht als "Union der Referenden" überleben. "Wenn die Europäische Union Selbstmord begehen will, sind Referenden ihre Waffe der Wahl."

EU-Wahlen Scheideweg für Europa

Referenden machen die EU regierungsunfähig, sagt der Autor des Buches "Europadämmerung". Denn wenn Wähler in verschiedenen Nationalstaaten durch ihr Votum Politik machten, bliebe kein Platz mehr für Verhandlungen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten. Die Existenz der EU aber basiere auf Austausch. Der Ausgang des Brexit-Referendums in Großbritannien habe jedoch viele wach gerüttelt, meint Krastev. "Die Menschen realisierten, dass sie den Preis für ihre Wählerstimme zahlen müssen. Sie realisierten, dass Wahlen kein Spiel sind."

Als weiteres Beispiel für die Selbstunterwanderung demokratischer Institutionen nennt der Politologe die Wahlen des EU-Parlaments. Der Ausgang der kommenden Europawahlen 2019 werde viel über die Zukunft der europäischen Demokratie offenbaren. Europaskeptische Parteien versuchten bei Europawahlen besonders präsent zu sein, da die Wahlbeteiligung bei den Wahlen relativ niedrig sei, meint Krastev: Eher jene Menschen gingen wählen, die der EU kritisch gesinnt seien. So sei es leicht möglich, dass sich das Europäische Parlament bald mehrheitlich aus europaskeptischen Parteien zusammensetzen werde.

"Migration wird nicht aufhören"

Paradoxerweise habe die Flüchtlingskrise die EU-Skepsis nicht in jenen Ländern verschärft, die in den vergangenen zwei Jahren die meisten Flüchtlinge aufnahm, argumentiert der Politikwissenschaftler, sondern in jenen Gegenden, die mit einer massiven Abwanderung zu kämpfen haben. Ein Paradebeispiel dafür seien die osteuropäischen Staaten, aus denen über die Jahre viele junge, talentierte Menschen nach Westeuropa abwanderten. Migration bedeute für sie daher einen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit und eine Verschwendung von Ressourcen. "Viele Leute sagen, indem wir die junge Generation ausbilden, fördern wir Deutschland und Österreich."

Dieses Prinzip sei auch für die Flüchtlingsströme von Afrika nach Europa relevant, meint Krastev. "Migration wird nicht aufhören", sagt er. Denn schon lange habe ein Sinneswandel eingesetzt, den er als "Revolution des 21. Jahrhunderts" bezeichnet. Die unerschütterliche Loyalität zum Heimatland sei nicht mehr selbstverständlich. Bevor sie sich die Mühe machten, ihr Land zu verändern, wählten viele Menschen heutzutage einen anderen Weg: Sie migrieren. "Das politische Feld gleicht zunehmend dem wirtschaftlichen Feld", sagt Krastev. "Wenn die Menschen unzufrieden sind, dann steigen sie aus."

(maka)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Direkte Demokratie in der Schweiz: In Appenzell werden auch heute noch Volksabstimmungen unter freiem Himmel durchgeführt.
Innenpolitik

Direkte Demokratie: Worüber wir abstimmen könnten

Wenn ÖVP und FPÖ die direkte Demokratie stärken, wird nicht nur eine Öxit-Abstimmung möglich.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.