Ruhr 2010: Odysseus, Asylant oder Verbrecher

Ruhr 2010 Odysseus Asylant
Ruhr 2010 Odysseus AsylantMatthias Horn (Schauspiel Dortmund)
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Uraufführung von Ransmayr in Dortmund. Eine Theater-Odyssee im Revier mit sechs neuen Schauspielen europäischer Dramatiker.

Zehn Jahre war Odysseus bei Homer unterwegs, getrieben vom Zorn des Poseidon. Zwei Tage und viel angenehmer ist die Reise „Odyssee Europa“: Zwischen sechs Theaterbesuchen werden die Teilnehmer listenreich auf Abwege geführt. Die Künstler von „raumlaborberlin“ inszenierten die „Irrfahrt durch die Zwischenwelt“: „Weggefährten“ holen die Zuschauer ab und zeigen ihre Lieblingsorte. Gastgeber lassen sie übernachten. Ein Schiff entführt sie auf den Rhein-Herne-Kanal.

Die Odyssee als Thema eines Theatermarathons bietet sich im Ruhrgebiet an, wo viele Fremde strandeten, als Arbeitsmigranten. Odysseus wird zur Chiffre des modernen Europäers, so die Veranstalter, „für den sich durch die Begegnung mit dem Fremden die Frage nach der eigenen Identität stellt“.

In Roland Schimmelpfennigs „Der elfte Gesang“ reist der Held in die Unterwelt. Wie bei Homer wird die Episode im Nachhinein berichtet; so wird die Bühne am Schauspiel Bochum zum Ort, an dem die Schrecken des Erlebten nur durch Sprache heraufbeschworen werden. Wolfgang Michael spielt eine doppelte Figur: den kettenrauchenden Besitzer eines Lottoladens, der in Erinnerungen schwelgt – und Odysseus, der sich der Begegnung mit den Toten stellt und der Verantwortung der eigenen Untaten. Das Ensemble in Bochum zeigt hohe Sprech- und Schauspielkunst, aber die Aufführung verlangte auch vom Publikum eine Konzentration, die am Nachmittag des ersten Tages nicht mehr durchgehend vorhanden war.

Penelopes Freier: Penner im Pool

Die reisenden Besucher waren aufgekratzt. Da ist es kein Wunder, dass die Aufführungen am meisten Anklang fanden, die klare Situationen mit großen Gefühlen und eine direkte Sprache wählten. So wie „Penelope“ des irischen Autors Enda Walsh, der am Theater Oberhausen vier Freier in einem Swimmingpool stranden lässt: Seit Jahren warten die Rivalen darauf, dass „Penelope“ sie erhört. Alt sind sie geworden, zuweilen gestehen sie ihr Scheitern ein. In dem mit Schrott gefüllten Pool hausen sie wie Penner, die Schauspieler bringen das erbärmliche Dasein bewundernswert zum Ausdruck.

Wie das Theater Oberhausen ist auch das Schlosstheater Moers durch die Geldnot der Kommunen in seiner Existenz akut gefährdet. Aber gerade in Moers war die Begeisterung der Zuschauer groß. Emine Sevgi Özdamar hat die Odyssee mit ihrer Biografie verschmolzen: „Perikızı“ ist eine junge türkische Schauspielerin, die unbedingt nach Europa will, trotz der Warnungen ihres Vaters. Ob sie denn nicht von Odysseus gehört habe? Nur weil er „Niemand“ wurde, hatte er überlebt, das würde auch ihr blühen. Die junge Frau bricht dennoch auf – und macht viele schlimme Erfahrungen, die aber von der Autorin mit skurrilem Humor gezeichnet und von Intendant Ulrich Greb als fröhlich-derbes Volkstheater in Szene gesetzt werden.

Sechs Schauspielhäuser sind im Ruhrgebiet auf engem Raum, aber wer sie zusammenlegen will, sollte bedenken, dass ihr potenzielles Publikum in einer Bevölkerung von fünf Millionen zu finden ist. Wer auf eine elitäre Ästhetik setzt, hat es jedoch schwer, wie Roberto Ciulli, der im Theater an der Ruhr in Mülheim seit 30 Jahren einem streng zelebrierten Theater der Grausamkeit treu leibt. „Sirenengesang“ von Péter Nádas kommt dem entgegen: Odysseus tritt als Figur nicht auf, ist aber präsent als mythischer Massenmörder und Ahnherr des brutalen 20. Jahrhunderts. Seine Söhne beherrschen die Szene, verüben sinnlose Gewalt, zum Töten angestachelt vom Sirenengesang, der aus Spielautomaten säuselt.

Nach sechs Aufführungen bleibt der Kriegsheimkehrer am stärksten im Gedächtnis. Mit ihm beginnt die Reise am Schauspiel Essen, wo der polnische Autor und Regisseur Grzegorz Jarzyna einen Mann vorführt, der das Handwerk des Tötens zu gut gelernt hat und nicht mehr zurechtkommt mit seiner früheren Welt. Andreas Grothgar verkörpert mit beeindruckender Intensität die Widersprüche des Soldaten, Ehemanns und Vaters, den zwar die Sehnsucht nach Liebe und Familie umtreibt, der aber seinen Panzer nicht aufbrechen kann.

Als Erbe die Kunst des Tötens

Der Theatermarathon endet am Schauspiel Dortmund mit Christoph Ransmayrs Tragödie: „Odysseus, Verbrecher“. Sie ist eine deutliche, manchmal auch plakative Anklage gegen Kriegstreiber, die vor den Folgen ihres Tuns die Augen verschließen. Wie die Erynnien verfolgen Odysseus die Toten, die er auf dem Gewissen hat; ihre Stimmen hindern ihn daran, in Ithaka wieder Fuß zu fassen. Regisseur Michael Gruner verpasst den Darstellern Terroristenmasken aus weißem Pappmachee, was dem Spiel etwas Schwerfälliges, in den besten Momenten aber auch eine antike Wucht verleiht. Und wie bei Jarzyna liegt auch bei Ransmayr die wahre Tragik darin, dass Odysseus nicht anders kann, als die Kunst des Tötens seinem Sohn weiterzugeben.

Reisetermine: 6./7. und 13./14. März, 2./3. April, 22./23. Mai (www.odyssee-europa.de)

ZUR PERSON

Raymond Pettibon wurde 1957 in Arizona geboren und gilt als einer der einflussreichsten US–Künstler. Bekannt wurde er in den 70er- und 80er-Jahren für Plattencover von Punkbands. Er lebt in Los Angeles und züchtet Kampfhunde. Der Kokoschka-Preis wird seit 1980 alle zwei Jahre vergeben. [Mirjam Reither]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.03.2010)

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