Individuelles Lernen: "Wir sind brav. Buben sind cool"

Individuelles Lernen sind brav
Individuelles Lernen sind brav(c) Michaela Bruckberger
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Die Volksschullehrerin Marlene Walter will das Selbstvertrauen von Kindern stärken.

WIEn. „Lebendige Sprache lehren“ ist das Motto von Marlene Walter, und dieses setzt sie in ihrem Unterricht konsequent um. Seit mittlerweile 41 Jahren arbeitet sie bereits im Lehrberuf, seit nunmehr drei Jahrzehnten versucht die Volksschullehrerin dabei, neue pädagogische Wege zu bestreiten. „Für mich waren traurige Kinder immer ein Anlass, meine Unterrichtsmethoden zu ändern.“ Traurige Kinder: Die gebe es beispielsweise nach Ansagen, wie sie an vielen Schulen immer noch ab der ersten Klasse durchgeführt würden. Mit dem Ergebnis, dass einige immer alles richtig schreiben und andere immer Fehler machen. Und das beschere Letzteren ein Misserfolgserlebnis nach dem anderen.

Sensible Phasen

Walter ist inzwischen überzeugt: „Man muss den Kindern den Mut lassen, dass sie es einmal schaffen. Es ist für ein Kind furchtbar, dauernd zu hören, was es nicht kann.“ Sie holt die Kinder daher vom ersten Schultag an dort ab, wo sie gerade stehen. Für jeden neuen Lernschritt, wie etwa das Zusammenlauten beim Lesen, gebe es – wie man es auch in der Montessori-Pädagogik bezeichnet – „eine sensible Phase“. Da müsse der Lehrer eben Geduld haben.

Auf der anderen Seite versucht Walter jedem Kind von Anfang an zu zeigen, was in ihm steckt und bei allen Mädchen und Buben die Stärken zu fördern. Ein Weg dorthin: „Wir lernen nicht rrrr, sondern wir lernen uns auszudrücken.“ Konkret heißt das: In den Klassen von Marlene Walter schreiben und lesen die Kinder von Anfang an.

Am ersten Schultag wird der eigene Name ins Heft geschrieben, den die Kinder meist bereits beherrschen. Am zweiten Tag folgt das Wort „ich“. Daneben zeichnen die Kinder, was sie erzählen wollen. Und dann lesen sie ihre Sätze vor. So erfährt Walter, dass das Bild eines Sees bedeuten soll „Ich gehe schwimmen“ oder die Zeichnung einer Puppe „Ich spiele mit meiner Puppe“.

Als nächstes Wort stellt Walter dann den Kindern „kann“ vor. Was sie können, wird wieder gezeichnet. Sobald ein Kind nicht mehr zeichnen, sondern auch diese Worte schreiben will, kommt es zur Lehrerin und diese schreibt den Begriff auf eine Karteikarte. So lernt jedes Kind in seinem Tempo. Am Ende der ersten Klasse beherrschen dann manche 40 Worte, die begabteren 200. Dies aber nachhaltig.

Gefühle ausdrücken

„Ich habe mir auch einmal überlegt, was mein Ziel ist: Sollen die Kinder am Ende der vierten Klasse 1000 Worte beherrschen oder 5000? Nein, es ist ein ganz einfaches Ziel: Ein Kind soll wissen, was es weiß und was es nicht weiß. Dann ist es auf dem Stand eines Erwachsenen, der weiß, wo er nachschauen kann.“ Auf die Kartei mit den neuen Begriffen folgt ab der dritten Klasse das Wörterbuch.

Wichtig ist Walter, dass die Kinder auch von Anfang an über sich schreiben, ihre Gefühle ausdrücken. Texte, die von der Tafel abzuschreiben sind, gibt es in ihrer Klasse – sie unterrichtet an der Volksschule Meißnergasse in Wien-Donaustadt – nicht. Über sich und seine Welt zu schreiben, das bringe Freude am Lernen, „das ist auch ein Angenommen-sein mit den eigenen Gedanken“.

Walter unterrichtet derzeit eine erste Klasse und bedauert, dass dies ihr letzter Turnus sein wird. Im Februar hat sie ihre Schüler gebeten, aufzuschreiben, „wie Mädchen so sind“ und „wie Buben so sind“. Eine Schülerin hat dazu notiert: „Wir sind brav. Wir mögen Kleider. Wir mögen pink. Wir mögen Bücher lesen. Wir mögen tanzen.“ Zu Buben ist dem Mädchen unter anderem eingefallen: „Buben sind wild. Manche Buben mögen Mädchen. Buben sind cool.“ „So erfahre ich viel, was Kinder denken“, erzählt Walter, darauf könne sie dann auch wieder inhaltlich eingehen.

Manchmal gibt die Lehrerin den Kindern auch Themen vor, für die es notwendig ist, zuvor mit anderen Mitschülern zu sprechen. So soll beispielsweise ein Bub darüber schreiben, was ein anderer kann. So müssen sich die Kinder unterhalten, nett zueinander sein, eine Gesprächskultur entwickeln, „die sich dann hoffentlich auch in der Pause fortsetzt“. Darin sieht Walter auch einen Baustein zur Gewaltprävention.

Eigene Texte schreiben die Kinder bei Walter jeden Tag. Und auch das Lesen wird großgeschrieben. Die Lehrerin hat für die Erstklässler selbst Lesebücher gestaltet. Zunächst sind nur einzelne Begriffe zu lesen und dann vom Kind zu zeichnen, so sieht Walter, dass verstanden wurde, was die Mädchen und Buben lesen. Dann folgen Wortgruppen, einzelne Sätze, schließlich mehrere zusammenhängende Sätze. Jeder liest in seinem Tempo, manche tun es auch in der Pause, weil sie es so gern tun, erzählt Walter. Nur mit nach Hause genommen werden dürfen die Büchlein nicht. Denn: Es sollen nicht die Eltern mit den Kindern üben, die Kinder sollen es allein schaffen. Denn das Selbstvertrauen jedes einzelnen Kindes zu stärken, das liegt Walter besonders am Herzen.

www.marlene-walter.at

Buchtipp: Marlene Walter: „Lebendige Sprache lehren – Sprache lebendig lehren“, Verlag Lernen mit Pfiff, Wien 2006, ISBN 978-3-902285-48-5

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.03.2010)

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