Gruppe D

Argentiniens zerrissene Seele

Unerhört: Jorge Sampaoli, 58, soll die Mannschaft rund um Lionel Messi schon lange nicht mehr erreichen.
Unerhört: Jorge Sampaoli, 58, soll die Mannschaft rund um Lionel Messi schon lange nicht mehr erreichen.(c) APA/AFP/MARTIN BERNETTI
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In der Albiceleste wurde der Selbstzerstörungsprozess eingeleitet. Teamchef Sampaoli scheint entmachtet, das Spiel gegen Nigeria könnte das letzte von Lionel Messi im Nationalteam sein. Und die Klagen der Fans sind unüberhörbar.

Sankt Petersburg ist dieser Tage ein buntes Sammelbecken von Fußballfans aus aller Welt. Kolumbianer unterhalten sich mit Brasilianern über James und Neymar. Mexikaner freunden sich bei einem Bier mit Russen an, gemeinsam verfolgt man die Spiele in einem der unzähligen Lokale der Stadt. Die Stimmung ist ausgelassen, bloß die seit Montag in Tausenden anwesenden Argentinier wirken etwas in sich gekehrt.

Die bisherigen Auftritte ihrer Mannschaft in Russland haben Fragen aufgeworfen. Die argentinische Fanseele schmerzt, sie ist zerrissen. Gewinnt die schwer angeschlagene Albiceleste heute Abend im Sankt-Petersburg-Stadion nicht gegen Nigeria, ist das WM-Abenteuer bereits nach der Vorrunde zu Ende. Mannschaftsintern dürfte der Selbstzerstörungsprozess bereits eingeleitet worden sein. Im Vorfeld des Duells mit den Afrikanern ist von einer Spielerrevolte die Rede. Der unbeliebte Teamchef, Jorge Sampaoli, soll kurz vor seiner Absetzung gestanden sein, das Sagen dürften ohnehin längst Lionel Messi und sein ehemaliger Mitspieler beim FC Barcelona, Javier Mascherano, haben. Es kriselt gewaltig beim Vizeweltmeister, dessen Fans dafür mannigfaltige Gründe ausmachen.

Selbstverständlich ist Messi ein zentrales Thema, ihm die Hauptschuld für die Misere anzulasten, ist seinen Landsleuten jedoch fremd. „Sehen Sie sich an, wie Messi in Barcelona spielt“, sagt Eduardo. Der Pensionist aus Buenos Aires sieht die Mannschaft in der Pflicht, das Desaster wäre aber nicht mehr aufzuhalten. „In der Nationalmannschaft sind die Spieler rund um Messi nicht gut genug. Das ist die traurige Wahrheit.“ Eduardo sieht Fehler in der Zusammenstellung des Kaders. Dafür sei jedoch gar nicht Sampaoli verantwortlich. Er vermutet eine gezielte Politik des argentinischen Fußballverbands dahinter.

Von Achsen und Systemfragen

Nur vier Spieler aus dem 23-Mann-Kader sind in der Heimat engagiert, „dabei haben wir dort wirklich viele gute Fußballer, die mit Herz spielen, sich für Argentinien zerreißen würden“. Jene aus Europa hätten „viel zu oft nur Geld im Kopf“, aber die stärkere Lobby.

Maria, Eduardos Begleitung, nickt zustimmend. Sie glaubt einen weiteren Grund für „dieses Fiasko“ ausgemacht zu haben. Der Mannschaft fehle es sichtlich an Struktur, sie sei ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Auch deshalb leide die Spielkultur. Tatsächlich vermisst Argentinien eine funktionierende Achse. Es gibt keinen Verein, der mehr als zwei Spieler der Nationalmannschaft stellt. Und das zur Verfügung stehende Spielermaterial, betont Maria, setze Sampaoli zu allem Überdruss falsch ein. Gonzalo Higuaín, Paulo Dybala, ?ngel Di María – sie alle saßen beim zerstörerischen 0:3 gegen Kroatien zu Beginn nur auf der Bank. „Ein großer Fehler.“

Neben der Personalsituation beschäftigt den argentinischen Anhang die Frage nach dem System. Gegen Island lief das Team im 4-2-3-1 auf, gegen Kroatien dann im 3-4-2-1, was wiederum zulasten der defensiven Stabilität ging. Das vom Gros der Fans bevorzugte System wäre ein 4-4-2, doch weicht Sampaoli von seiner Strategie mit nur einem nominellen Stürmer ab? „Er muss!“, sagt der in einer blauweißen Fahne eingehüllte Cesar forsch und gestikuliert dabei wild. Es sei schließlich das Spiel der letzten Chance, Argentiniens Ehre stünde auf dem Spiel.

Messis letzte 90 Minuten?

Das sieht Diego Maradona übrigens ähnlich. Er hat angekündigt, der Mannschaft einen Besuch abzustatten und sie wachzurütteln. „Ich will mit den Spielern sprechen, damit sie verstehen, was es bedeutet, dieses Trikot zu tragen.“ Maradona und die vielen Tausenden argentinischen Fans könnten heute in St. Petersburg übrigens Zeugen des 127. und letzten Länderspiels von Lionel Messi werden. „Diese Vorstellung“, gesteht Cesar, „macht uns allen Angst.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2018)

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