Keine Totenruhe für Nikolaj

Der letzte russische Zar Nikolaus II. wird als Heiliger verehrt: Orthodoxes Kloster Ganina Jama außerhalb von Jekaterinburg. Hier wurden die Leichen der Romanows nach der Erschießung zunächst verscharrt.
Der letzte russische Zar Nikolaus II. wird als Heiliger verehrt: Orthodoxes Kloster Ganina Jama außerhalb von Jekaterinburg. Hier wurden die Leichen der Romanows nach der Erschießung zunächst verscharrt.Wolfgang Korall / Interfoto / picturedesk.com
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Vor 100 Jahren ermordeten die Bolschewiken die Familie Romanow. Eine Reise zu den Stätten des Verbrechens in und um Jekaterinburg, die zu Pilgerorten und zu Objekten eines kuriosen Streits geworden sind.

Nikolaj Romanow ist in Ganina Jama allgegenwärtig: In der Cafeteria blickt er in blauer Uniform von einem Bild, im Klostershop kann man sein Antlitz als goldener Anhänger erstehen oder Zarenwasser – 0,5 Liter für 50 Rubel – kaufen, in den Kirchen hängt er hundertfach als Ikone. Das orthodoxe Kloster Ganina Jama unweit der russischen Metropole Jekaterinburg verehrt den letzten Zaren als Heiligen. Sieben Kapellen aus Holz hat man hier im Wald gebaut, ausgestattet mit modernsten Elektroinstallationen, sodass es warm ist im Winter und kühl im Sommer. Das Herzstück der Anlage bildet eine hügelige, grasbewachsene Lichtung, um die ein überdachter Rundweg führt: der frühere Schacht Nummer sieben, der Ort, an den die Bolschewiken die Leichen Nikolajs und seiner Familie nach der Exekution am 17. Juli 1918 brachten.

Das Kloster, dessen Grundstein im Jahr 2000 gelegt wurde – zeitgleich mit der Heiligsprechung der Zarenfamilie – ist eine Pilgerstätte für Verehrer des letzten Zaren und Monarchisten. Hier glauben sie dem Martyrium der Romanows nachspüren zu können. Doch ist die Anlage vielmehr ein Ort, an dem zu spüren ist, dass das Schicksal der Zarenfamilie Russland noch immer umtreibt – und Nikolaj seine letzte Ruhe noch nicht gefunden hat.

Denn tatsächlich lagen die Gebeine der Romanows nur kurz in der Grube, bevor sie an einen anderen Ort transportiert wurden. Das wird in Ganina Jama mit keinem Wort erwähnt. Die Kirche hängt der „Verbrennungsthese“ an, die besagt, dass die Gebeine der Zarenfamilie hier „vernichtet“ wurden, wie es an einer Informationstafel heißt. Sie hält damit an einer frühen Version des Tathergangs fest, wie sie im Bericht des Ermittlers Nikolaj Sokolow ausgedrückt wurde, die der heutigen Faktenlage nicht stand hält.


Von der Revolution zum Krieg.
Russland, 1917. Das Zarenreich wird von Protesten erschüttert, die sich zur Revolution ausweiten. Nach seiner Abdankung im März 1917 werden Nikolaj und seine Familie von der provisorischen Regierung unter Hausarrest gestellt. Die Mitglieder der ehemaligen Monarchenfamilie sitzen in ihrer Residenz in Zarskoje Selo bei St. Petersburg in einem „goldenen Käfig“, wie György Dalos in seinem Buch „Der letzte Zar“ schreibt, einem kleinen, lesenswerten Buch über Nikolajs Leben und seine Regentschaft, seine enge Beziehung zu Zarin Alix, aber auch seinen Autoritarismus und Aberglauben. Die Routinen des Abgedankten und seiner Familie: Nikolaj liest der Familie aus dem „Graf von Monte Christo“ vor, Alix stickt, die Kinder erhalten Französischunterricht, zur Leibesertüchtigung wird Schnee geschaufelt. Doch schon ein paar Monate später werden sie aus ihrem Alltag geworfen. Im August 1917 wird die Familie samt Bediensteten in das sibirische Städtchen Tobolsk evakuiert. Als sich im November die Bolschewiken an die Macht putschen und der Bürgerkrieg ausbricht, wird die Lage der Familie noch schwieriger. Im April 1918 gelangen die Romanows nach Jekaterinburg im Ural.

Bei ihrer Ankunft werden die Romanows von einer aufgebrachten Menschenmenge empfangen, die Nikolajs Herausgabe fordert. Die Familie sitzt im so genannten Ipatjew-Haus fest und wird von der Öffentlichkeit abgeschottet. „Die Versorgung war erbärmlich, die Behandlung rüder und der Bewegungsspielraum noch enger – sogar Gottesdienste hielt ein dazu eingeladener Geistlicher im Haus ab“, schildert Dalos im letzten Kapitel seines Buches, das er treffend „Die Tragödie des Bürgers Romanow“ genannt hat.

Jekaterinburg erwies sich für die Zarenfamilie als Falle. Angesichts der näherrückenden Weißen Armee und einer drohenden Befreiung der Stadt beschlossen die örtlichen Bolschewiken, die Zarenfamilie zu ermorden. Am 17. Juli 1918, nach Mitternacht, wurden die Romanows aufgeweckt und in den Keller des Hauses beordert, angeblich um einem feindlichen Angriff zuvorzukommen. Nikolaj wurde über seine Erschießung informiert und reagierte der Überlieferung nach noch mit einem „Was?“, da fielen schon die Kugeln auf ihn, seine Frau und die fünf Kinder. Auch vier Vertraute der Familie wurden in dieser Nacht erschossen.

Bestattungsort gefunden. Was in dieser Nacht begann – die hektische Suche nach einem Bestattungsort –, beschäftigt 100 Jahre später noch immer die russische Gesellschaft. Auf der Suche nach einer geheimen Stelle, an der man sich der Leichen entledigen könnte, fiel die Wahl auf ein Kohlebergwerk, genannt Ganina Jama, 20 Kilometer außerhalb von Jekaterinburg. Die Bolschewiken verbrannten die Kleidung und beförderten die Körper in jenen Schacht, um den heute das Kloster steht. Doch die Täter fürchteten, dass die Leichen entdeckt würden. Nur wenig später kamen sie zurück und transportierten die Leichen ein paar Kilometer weiter, in ein Waldstück namens Porosjonkow Log. Dort hoben sie Gruben aus, übergossen die Körper mit Schwefelsäure und warfen sie hinein. Am 25. Juli 1918 fiel Jekaterinburg an die Weiße Armee. Im Jahr darauf untersuchte Sokolow den Fall und konstatierte die Verbrennung.

Solange die Sowjetunion existierte, durfte das Geheimnis der Zarenfamilie nicht gelüftet werden – obgleich schon in den späten 1970er-Jahren zwei Männer den eigentlichen Bestattungsort ausfindig machten. Im Jahr 1991 wurden an dieser Stelle menschliche Überreste gefunden, die man in Gentests als Mitglieder der Zarenfamilie identifizierte. Bestattet hat man die Gebeine in der St. Petersburger Peter-und-Paul-Kathedrale – ohne den Zarewitsch Alexej und seine Schwester Maria, deren Überreste erst 2007 im Waldgebiet Porosjonkow Log gefunden und die bis heute nicht beigesetzt wurden. Russlands erster Präsident Boris Jelzin veranlasste damals die Zeremonie. Auch die Biografie des langjährigen Jekaterinburgers kreuzt die der Zarenfamilie mehrfach. Als Chef des Swerdlowsker Gebiets war er in den späten 1970er-Jahren verantwortlich für den Abriss des Ipatjew-Hauses im Zuge der Neugestaltung des gesamten Stadtviertels. Mittlerweile steht an Stelle des Hauses ein riesiges orthodoxes Gotteshaus – die Kirche auf dem Blut. Auch hier werden die Mitglieder der Zarenfamilie als Märtyrer verehrt.

Die Kirche wirft Jelzin wegen der Schleifung des Todesgemäuers die Beseitigung historischer Spuren vor. Doch auch sie stemmt sich auf ihre Art gegen die Aufklärung und erkennt die Echtheit der menschlichen Überreste nicht an, denn: Für sie gibt es keine – die Romanows wurden ja verbrannt. Dieser offiziellen Kirchen-Version folgen auch die tausenden Pilger, die alljährlich ihren Fußmarsch von der Jekaterinburger Kirche auf dem Blut in das Kloster Ganina Jama antreten. Zum hundertjährigen Gedenktag werden besonders viele Teilnehmer erwartet.


Holzkreuze im Wald. Den Ort im Wald, an dem die Gebeine der Zarenfamilie lange Jahre lagen, lassen sie dabei aus. Heute steht dort ein einfaches Schild mit der Bezeichnung „Gedenkstätte der Romanows“, daneben verläuft ein Bahndamm und eine Gasleitung. Ohne den orthodoxen Pomp von Ganina Jama erinnern mehrere Holzkreuze und Grabsteine an die Stelle, wo die Gebeine im Waldboden gefunden wurden. Da die beiden Eheleute, drei ihrer Kinder und die Bediensteten und ein paar Meter weiter im Wald der Zarewitsch und Maria. „Hier hat man die Mitglieder der Zarenfamilie und ihrer Vertrauten vor den Menschen versteckt“, steht auf einem Gedenkstein geschrieben. Ein Satz, der in mancher Hinsicht auch für die Gegenwart passend scheint.

Buchtipp

György Dalos
„Der letzte Zar: Der Untergang des Hauses Romanow“, C.H. Beck
231 Seiten, 23,60 Euro

In diesem Sachbuch gibt der Historiker einen Überblick über das Leben und den gewaltsamen Tod des letzten Zaren – kurzweilig und erschütternd.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.07.2018)

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