Kultur: Eine Form von höherer Barbarei?

Kultur–Barbarei, Kultur–Natur, Kultur–Wirtschaft. Lauter Gegensatzpaare? Es scheint nicht ganz einfach zu sein mit der Bestimmung dessen, was Kultur ist. Eine kleine Begriffsgeschichte.

„Wenn ich Kultur höre, entsichere ich meinen Browning.“ So reagiert der ehemalige Flieger im Ersten Weltkrieg, Friedrich Thiemann, in Hanns Johsts Schauspiel „Schlageter“ auf den „ganzen Weltanschauungssalat“ in der Weimarer Republik. Damit war es bei der Uraufführung des Stücks zum Geburtstag und in Anwesenheit des Reichskanzlers am 20. April 1933 am Berliner Staatstheater vorbei. Zu diesem Zeitpunkt herrschte wieder Monokultur. Dass dieser Begriff an die Landwirtschaft denken lässt, kommt nicht von ungefähr. Leitet sich das Wort Kultur doch vom lateinischen cultura ab, das sich auf den Ackerbau bezog, somit auf das Gegenteil von Wildwuchs. Kultur in seinem Ursprung war Pflege, Gestaltung der Natur.
Seither hat der Kulturbegriff eine Menge Bedeutungen angenommen: vom Bestand an künstlerischen und geistigen Werken oder dem Prozess intellektueller Entwicklung über die Werte, Sitten, Überzeugungen und symbolischen Praktiken von Menschen bis ganz allgemein zur menschlichen Lebensweise. Für Aby Warburg etwa war der Drang des Menschen, seinen tiefsten und existenziellen Ängsten symbolischen Ausdruck zu verleihen, der Ursprung aller Kultur. Da spielt der Begriff bereits in jenen der Religion hinein.

Anders gesagt, wer was unter Kultur versteht, hängt sehr von seiner individuellen Kultur – oder eben Barbarei – ab. Denn auch über die Bestimmung des Gegenteils von Kultur kann man sich dem Begriff nähern. Für die Römer waren Zivilisation und Kultur weitgehend deckungsgleich. Davon unbeleckt waren für sie die Barbaren, denen römische Zivilisation zu ihrem Besten – und nebstbei zur Einhebung von Steuern zur Finanzierung der römischen Kultur – mit zivilisatorisch fortgeschrittener Waffengewalt beigebracht werden musste. Auch die ausgereifteren Waffensysteme bedeuten Kultur. Oder doch höhere Barbarei?

An dieser Frage zeigt sich, dass es nicht ganz einfach ist mit der Bestimmung dessen, was Kultur ist. Auch ihre Geltung, sowohl zeitlich als auch örtlich, ist strittig. War die Sklavenhaltergesellschaft der antiken Griechen kulturlos – trotz ihrer ausgereiften architektonischen, philosophischen, literarischen Werke? Ist das, was in manchen Weltgegenden als Teil der Kultur gilt, also etwa das Tragen eines Tschadors von Frauen, eine besondere Kultur oder eine universelle Unart? Umgekehrt könnte man aber auch die Vergiftung des und den Raubbau an unserem Planeten, die sich aus der westlichen Lebensart ergeben, als universale Unkultur betrachten. Der „Kulturalismus“ der 1980er-Jahre ging davon aus, dass der Mensch in seiner Gesamtheit Kultur sei. Dass der Mensch auch Säugetier mit „natürlichen“ Bedürfnissen ist, davon war in dieser Theorie nicht die Rede. Kultur sei formbar, wandelbar, austauschbar, während die Natur eher stur und unnachgiebig ist. So wurde ein Gegensatz zwischen Kultur und Natur konstruiert, den es ursprünglich, als Kultur noch Gestaltung statt Ausbeutung der Natur war, nicht gab.

Nach dem „Kulturalismus“ gilt die Natur als das Ursprüngliche, Urwüchsige, Kultur als die Zivilisierung, Verfeinerung – bis hin zur Dekadenz mit dem Untergang einer Kultur. Die Geschichte lehrte uns, wenn sie uns denn etwas lehrte, dass es offenbar einer gewissen Balance bedarf, um Kultur und Natur am Leben zu erhalten, einer Balance zwischen Fortschritt und Tradition, einer Balance zwischen Gewohnheit und Erneuerung, einer Balance zwischen Einheit und Vielfalt. Gerade mit Letzterer ist für uns postmoderne Menschen der westlichen Zivilisation Kultur untrennbar verbunden. Damit haben wir uns aber in mancherlei Hinsicht in unsicheres Terrain begeben.

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