Wer war der Böseste im ganzen Land?

Ein „Tu quoque“ kann nicht dazu dienen, Geschichte zu analysieren.

Seit einigen Wochen lese ich einigermaßen irritiert Gastkommentare in der „Presse“, in denen historische Persönlichkeiten evaluiert werden. Man fragt sich laut und lesbar: Wer war der Böseste im ganzen Land? Karl Renner mit seinem Ja zum „Anschluss“, Engelbert Dollfuß wegen der Errichtung einer Diktatur, Karl Lueger wegen seines populistischen Antisemitismus oder der Eugeniker Julius Tandler?

Der Letztgenannte wurde im Gastkommentar „Die 30.000 Vollidioten Deutschlands“ ausführlich zitiert. Auf die Kritik „linker Pseudohistoriker“ am „bedeutendsten Bürgermeister Wiens“ Karl Lueger kontert Herbert Kaspar, indem er auf zentrale Passagen der eugenischen Schriften Julius Tandlers verweist. In diesen war bereits während des Ersten Weltkrieges und noch deutlicher in den 1920er-Jahren von „Minusvarianten“, „Menschenökonomie“, „Rassenhygiene“ und „lebensunwertem Leben“ die Rede. Das wissenschaftliche Umfeld solcher Begrifflichkeiten lässt er allerdings unerwähnt, wodurch sich für den Leser die Schlussfolgerung ergeben muss, Tandler wäre ein fanatischer Rassenhygieniker gewesen. Als einer von zahlreichen Teilnehmern am international und interdisziplinär geführten Eugenikdiskurs gehörte der Gesundheitsstadtrat des roten Wien allerdings nicht zu einer radikalen Minderheit. Die Idee, Menschen seien auf Basis ihres biologisch-genetischen Werts für die Gesellschaft zu beurteilen, war – so traurig das ist – über nationale und parteiliche Grenzen hinweg weit verbreitet. Tandler war da keine Ausnahme.

Selbstkritisch reflektieren

Abgesehen davon, dass Kaspar in seinem Kommentar einige wesentliche historische Kontexte auslässt, hätte er sich ruhig die Arbeit machen können, einen Blick in neuere Arbeiten zu Julius Tandler zu werfen. Seit der 1983 veröffentlichten Biografie, aus der er zitiert, haben sich nämlich mehrere Forscher durchaus ernsthaft mit der Person Tandler auseinandergesetzt. Der eigentliche Grund für Kaspars Kommentar scheint also nicht das Bemühen zu sein, seine Leser über historische Entwicklungen und Ereignisse aufzuklären. Es geht ihm vielmehr darum, in der Debatte von den eigenen Trübungen im Geschichtsbild auf die Flecken im Geschichtsbild der anderen umzuschwenken. Und so stellt er dem christlich-sozialen Politiker Lueger den sozialdemokratischen Politiker Tandler gegenüber und beklagt, dass in der Erinnerung der Nachfolgeparteien an ihre historischen Größen der eine zu scharf, der andere zu milde für seine heute untragbaren Äußerungen beurteilt würde. Erklärungsansätze dafür mögen sein, dass Hitler auf Lueger explizit Bezug genommen hat, auf den Sozialdemokraten Tandler aber nicht. Weiters ist es mehr als nur naheliegend, dass sich Tandlers Rassebegriff von dem der Nationalsozialisten wesentlich unterschied. Er selbst war nämlich nach nationalsozialistischen Kategorien Jude. Soviel als Ergänzung zu den „wissenschaftlichen Verkürzungen“, die Kaspar anderen vorhält.

Mehr als fragwürdig erscheint mir, ob eine historisch-politische Variante des „Tu quoque“ wirklich dazu dienen kann, vielschichtige historische Ereignisse und Persönlichkeiten seriös zu beurteilen. Der jeweiligen politischen Gegenseite verzerrte Geschichtsbilder, geschichtswissenschaftliche Inkompetenz, mangelnde Objektivität etc. zu unterstellen, ist wenig dazu geeignet, der Geschichte gerecht zu werden. Die Vergangenheit der eigenen Partei, so wie die des politischen Widersachers, wird nicht (selbst-)kritisch reflektiert, um Lehren aus historischen Entwicklungen zu ziehen, sondern dient als Fundgrube für verbale Hiebe, die plump eingesetzt werden, um die moralische Identität des politischen Gegners anzugreifen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.03.2010)

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