Überleben trotz aller Überforderung

Julia Hobsbawm, die man in London Networking Queen nennt, mahnt in Alpbach, Kontakte auch einmal auszusortieren.
Julia Hobsbawm, die man in London Networking Queen nennt, mahnt in Alpbach, Kontakte auch einmal auszusortieren. Daniel Novotny
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Soziale Gesundheit: Die Dauervernetzung sei viel zu viel – fast wie bei Fettsucht, sagt Julia Hobsbawm. Abschalten allein reiche nicht, wir bräuchten ein neues Konzept von Gesundheit.

Wir haben alles im Griff. Ernährung, Anzahl nötiger Kalorien oder Vitamine, wie viele Stunden Schlaf gut wären, wie viele Schritte genug und so weiter. Und sonst? Wie viel Verbundenheit, wie viel Information, wie viel Zeit im Internet, in sozialen Netzwerken ist erträglich – beziehungsweise Befinden und Gesundheit zuträglich? Das wird eher nicht kalkuliert. „Always on läuft unbewusst und nebenbei – und schadet uns massiv“, sagt die britische Wissenschaftlerin Julia Hobsbawm.

„Es ist offensichtlich, dass wir, neben vielen positiven Begleiterscheinungen, alle damit kämpfen. Wir sind gestresst und überfordert“, sagt Hobsbawm. Während wir auf Ernährung und Bewegung achten, sei der Umgang nach bald 25 Jahren immer konstanterer digitaler Verbundenheit völlig achtlos – und in einer Krise.
„Die Produktivität stagniert, Stresslevels sind exorbitant, die Krise der Dauer-Verbundenheit muss angesprochen werden. Es gibt eine Epidemie des Informationsüberflusses.“

Sie vergleicht diese mit Adipositas, mit Fettsucht. „Zugleich hungern wir nach Zeit. Und zugleich sind wir im Umgang mit unseren Netzwerken blockiert – es ist wie eine verstopfte Arterie.“ So formuliert sie ihre Diagnose des Problems – denn sie sieht die Auswirkungen des ständigen Verbundenseins im Beruflichen wie im Privaten als immenses Gesundheitsproblem – und spricht von einem neuen Konzept der „Sozialen Gesundheit“, das nötig sei, um angesichts des Überflusses an Information gesund zu bleiben.

Umdenken nach Krankheit

Schließlich wurde Hobsbawm selbst vor zehn Jahren alles zu viel, wie sie erzählt. Nach einer ernsthaften Krankheit hat sie begonnen, sich intensiv mit diesem Thema zu befassen, sich damit befasst, wie körperliche, mentale und soziale Gesundheit und Wohlbefinden definiert werden – und wie man diese Themen diskutiert.

„Hier habe ich eine riesige Lücke gefunden. Also dachte ich, okay, schreibe ich einen Entwurf, wie wir das Problem identifizieren und lösen.“ Mit ihrem Buch „Fully Connected“ hat sie einen Nerv getroffen. Das Interesse daran reißt nicht ab. Zunehmend, erzählt sie, wachse dieses vor allem in der Politik. Ihr Lösungsansatz: „Wir müssen unser Verhalten überdenken, eine neue Art der Distinktion, die Kontrolle über unsere Zeit und anderes Verhalten finden.“ Der Achtsamkeitstrend oder Dinge wie digitaler Detox seien Begleiterscheinungen dieser Krise, aber nicht genug: Der Begriff der sozialen Gesundheit sei größer gefasst.

Am Ende, sagt Hobsbawm, wünsche sie sich, dass Soziale Gesundheit von Einzelnen, in Unternehmen oder Staaten gemessen werden kann, und dass es klare Standards dafür gibt. So wie für die Berechnung anderer Gesundheits- oder Sicherheits-Indikatoren, etwa den Body-Mass-Index. „Wir müssen gute Verbundenheit messbar machen, unsere Netzwerke dahingehend überprüfen, unsere soziale Verbundenheit in Balance bringen.“ So, wie Begriffe wie Sozialkapital auch erst langsam etabliert wurden, müssen wir die Soziale Gesundheit als ernsten Faktor etablieren.“

Wöchentlicher digitaler Sabbat

Julia Hobsbawm selbst, die große Netzwerkerin, hat im Hinblick auf ihre „gute“ Vernetzung ihr Leben umgestellt: Ein Mal pro Woche legt sie einen digitalen Sabbat-Tag ein, jeden Freitagnachmittag geht sie 24 Stunden offline. „So, wie ich weiß, welche Nahrung ich brauche, weiß ich, was ich für mein soziales Wohlbefinden brauche.“ Sie nimmt aktiv Zeiten offline, etwa 40 Minuten am Tag, um Bücher oder wissenschaftliche Publikationen zu lesen. Auch ihre Kontakte und Netzwerke habe sie – die auf allen gängigen Kanälen aktiv ist – teils neu sortiert. „Man muss unterscheiden.

Auf Facebook bin ich nur mit echten Freunden verbunden, berufliche Kontakte, auch wenn man freundschaftlich umgeht, habe ich nicht auf Facebook.“ Einen wesentlichen Anteil ihrer Zeit hält sie frei für persönliche Kontakte. „Vertrauen, echte Verbindung und Kontakt entstehen nicht durch Textnachrichten, sondern, wenn man gegenüber sitzt, in die Augen schaut.“

"Wir stehen erst am Anfang"

Ihr selbst, sagt sie, gehe es mit dieser Distinktion, dieser klaren Kontrolle über ihre Zeit, viel besser. „Aber wir stehen am Fuße eines Berges, es ist ein ständiger Prozess des Übens und des Lernens. Es ist kein Ende in Sicht.“

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