Bobbie Gentry: Die rätselhafte Schöne vom Mississippi-Delta

Zu Unrecht ein One-Hit-Wonder: die Südstaatensängerin Bobbie Gentry.
Zu Unrecht ein One-Hit-Wonder: die Südstaatensängerin Bobbie Gentry.Universal Music
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Bobbie Gentry eroberte 1967 mit „Ode to Billie Joe“ die Welt im Sturm. Elf Jahre später zog sie sich für immer zurück. Jetzt erscheint eine fabelhafte Werkschau.

Als die amerikanische Rockband Mercury Rev jüngst „Bobbie Gentry's The Delta Sweetie Revisited“ präsentierte, ein Album, das eine frühe Langspielplatte Gentrys komplett coverte, musste sich so mancher Fan aus früheren Tagen vergewissern, ob diese glorios in die Anonymität verschwundene Heldin noch am Leben ist. Sie ist es. Mittlerweile 76 Jahre alt, lebt sie eineinhalb Autostunden von jener Brücke entfernt, die sie einst weltberühmt gemacht hat: die Tallahatchie-Bridge. Von ihr stürzte sich in Gentrys Song ein gewisser Billie Joe McAllister. Sein Motiv blieb rätselhaft. Der Welthit „Ode to Billie Joe“ lieferte keine präzisen Angaben. Das war gleich zu Beginn einer Karriere, die viel zu kurz währte. Gentry nahm von 1967 bis 1971 sieben Alben auf.

Danach konzentrierte sie sich auf Liveauftritte in den Glücksspielstädten Las Vegas, Lake Tahoe und Reno. Und auf ihre berühmte TV-Show. Bereits 1978 zog sich Gentry aus der Öffentlichkeit zurück. Eine luxuriöse, mit einem illustrativen Buch ausgestattete Box mit acht CDs erinnert jetzt an diese große Künstlerin.

Karrierestart dank Milchkuh

Als eine der ersten Sängerinnen in den USA kümmerte sie sich um alles, was ihre Kunst betraf, selbst. Sie komponierte, arrangierte und sang. Auch die Visualisierung ihrer Lieder in der eigenen TV-Show unterstand einzig ihrer Expertise.

Egal, ob Fernsehshows wie „The Bobbie Gentry Happiness Hour“ oder ihre Alben, alles strahlt eine beinah unwirkliche Zeitlosigkeit aus. Musikalische Geradlinigkeit traf bei ihr auf vertrackte Erzählweise, subtile Streicher auf gutturalen Soulgesang.

Die Basis für die Laufbahn der 1942 als Roberta Lee Streeter in Chickasaw County, Mississippi, geborenen Sängerin war der Verkauf einer Milchkuh. Dieses Opfer nahm ihre Großmutter auf sich, um dem Gör ein Klavier kaufen zu können. Mit sieben Jahren komponierte Gentry ihren ersten Song. Als sie dann mit 25 mit ihrem einzigen Welthit debütierte, war sie längst eine erfahrene Musikerin, die eine Vielzahl an Instrumenten spielte. Die nun vorliegende Prachtedition „The Girl from Chickasaw County“ zeigt sie als von Anbeginn vollendete Künstlerin, als kluge, aparte, gar nicht unterkühlte Südstaatenschönheit.

Neben ihren essenziellen Alben enthält die Box eine große Anzahl an bisher unveröffentlichten Liedern. Darunter gibt es unverzichtbare, wie Gentrys japanische Version des Beatles-Klassikers „Fool on the Hill“. Ohne sie möchte man gar nicht mehr weiterleben.

Wohin ist sie entschwunden?

Interessant ist aber auch die Duettplatte mit dem amerikanischen Superstar Glen Campbell. Mit ihm hat sie die Plattenfirma zusammengebracht – um die abstürzenden Umsätze ihrer eigenen, qualitativ großartigen Alben aufzuhalten. Die Übung gelang zwar, aber nur zu dem hohen Preis, dass man von Gentry weniger gehört hat, als einem lieb ist. Aus heutiger Sicht ist es unerklärlich, wie ihre intelligent gebauten eigenen Songs nicht ähnliche Zugkraft entfalten konnten wie „Ode to Billie Joe“. Qualität und kommerzieller Erfolg waren also damals schon ein Widerspruch.

Heutige Kolleginnen rätseln: „Where Is Bobbie Gentry?“, fragte Jill Sobule in ihrem gleichnamigen Song. Und Roseanne Cash grübelte in einer von ihr gestalteten BBC-Radiosendung: „Whatever happened to Bobbie Gentry?“ Vielleicht ist Bobbie Gentry ja tatsächlich eine Art „J. D. Salinger des Rock'n'Roll“ und schreibt, wie einst dieser Autor des millionenschweren Bestsellers „Der Fänger im Roggen“, jahrzehntelang im stillen Kämmerchen weiter? Wir werden es noch erfahren.

Bobbie Gentry:
„The Girl from Chickasaw County. The Complete Capitol Masters“ (8 CDs)
Universal Music

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2019)

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