Das schaurigste Ritual der Menschheit

Ein verstörender Fund: die Knochen von geopferten Kindern, bei Trujillo in Peru.
Ein verstörender Fund: die Knochen von geopferten Kindern, bei Trujillo in Peru.John Verano/Plos
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Um 1450 riss man in Peru 270 Kindern das Herz aus dem Leib. Forscher untersuchten den Fundort. Sie stellen eine plausible These darüber auf, was die Täter zu dem Massaker bewogen hatte. Aber wie oft gab es früher Menschenopfer?

Die Buben des Pizzabäckers spielten mit den Nachbarhunden, auf einem brachliegenden Grundstück nahe dem Meer. Dabei stießen sie auf Knochen, die aus dem Sand staken. Ihr Vater informierte die Archäologen im nahen Trujillo.

Diese dachten zuerst, vor acht Jahren, an einen vergessenen Friedhof. Aber was sie seitdem ausgruben, hat sich als viel verstörender erwiesen: Die Leichen waren Kinder, im Alter von fünf bis 14 Jahren. Die Baumwolltücher, in die man sie gewickelt hatte, erlaubten eine Radiokarbon-Datierung ihres Todes: um 1450 n. Chr., gegen Ende des Chimú-Reiches. Die Ruinen seiner Kapitale, Chan Chan, damals eine der größten Städte auf dem Doppelkontinent Amerika, liegen wenige Kilometer entfernt. Die Untersuchung der Knochen zeigte: Man hatte den Knaben und Mädchen mit einem Messer die Brust aufgeschlitzt, die Rippen ausgerenkt – und dann wohl bei lebendigem Leibe das Herz herausgerissen. Mit ihnen begraben fand man Lamas, auf die gleiche rituelle Weise getötet. Der makabre Fund weitete sich aus: Vor Ort fand man 140 Kinderskelette. Durch eine zweite Opferstätte, nahe gelegen und später entdeckt, erhöhte sich die Zahl auf 270 – die weitaus größte Massenopferung von Kindern, die wir aus der Geschichte der Menschheit kennen. Jetzt haben die Forscher ihre Erkenntnisse zum ersten Fundort in einer Studie veröffentlicht (Plos One, 6. 3.).

Sie enthält beklemmende Details. Die Kinder stammten nicht nur aus der Küstenregion des Inka-Nachbarreichs, das sich über 1000 Kilometer im Norden Perus erstreckte. Manche Schädel sind leicht deformiert, durch Kopfbedeckungen, die Babys damals trugen – aber nur im weit entfernten Hochland. Isotopen-Analysen der Zähne bestätigten: Die Kinder, durchwegs bei guter Gesundheit, wurden aus allen Landesteilen herbeigeschafft. Die Opferstätte war mit Schlamm bedeckt, was für deutliche Fußabdrücke sorgte. So lässt sich das grausige Ritual rekonstruieren: Prozessionen von zwei Seiten trafen am Tatort zusammen. Die Erwachsenen trugen Sandalen, die Opfer waren barfuß. Die Lamas wehrten sich, die Kinder nicht. Vermutlich sedierte man sie mit Bier, worauf Reste von Krügen hinweisen und was man von den Inkas kennt. Die Schnitte ins Fleisch erfolgten in einem Zug, wie eingeübt. Allerdings fanden sich unter den Leichen auch drei Erwachsene. Zwei Frauen – mussten sie die Kinder begraben, bevor sie selbst mit Schlägen auf den Kopf getötet wurden? Und ein auffällig kräftig gebauter Mann unter einem Haufen von Steinen – der Henker? Das deutet darauf hin, wie extrem und grenzüberschreitend das Massaker auch für seine Initiatoren war.

Kinder töten, weil El Niño wütet

Was aber bewegte Menschen dazu, das Wertvollste zu opfern, was sie hatten – ihren Nachwuchs? Auch dafür liefert der Schlamm ein Indiz: Offenbar gab es damals in der sonst ariden Gegend anhaltend heftige Regenfälle und Überflutungen. Sie dürften das Kanalsystem zur Bewässerung der Felder, das Rückgrat der Landwirtschaft, zerstört haben. Solche Wetterphänomene verursacht in diesen Breiten nur El Niño. Dabei erhöht sich die Meerestemperatur. Die Fischschwärme meiden die Zone, die Netze der Fischer bleiben leer. In einer solchen Notsituation brachte man Opfer, um den Wettergott zu besänftigen. Vielleicht zuerst nur Tiere, dann Gefangene. Und wenn die Götter noch immer kein Erbarmen zeigten, in letzter Verzweiflung die eigenen Kinder.

Menschenopfer kamen auf der ganzen Welt, in allen Kulturen vor. Umstritten ist ihr Umfang, und wie weit Kannibalismus mitspielte. Meist waren die Opfer Kriegsgefangene oder Sklaven, nur sehr selten Kinder. Einem Kinderfriedhof in Karthago unterstellten antike Autoren, dort lägen Geopferte, was 2010 widerlegt wurde. Generell sind Berichte aus Völkern oder Religionen über barbarische Sitten ihrer Gegner und Vorläufer mit Vorsicht zu genießen. Was die Römer über die Kelten, die Christen über die Germanen behaupteten, steckt voll polemischer Übertreibungen. Ausgrabungen zeigen, dass Menschenopfer viel seltener praktiziert wurden, als griechische Mythen und lateinische Schullektüre es glauben machen.

Isaak, Azteken und Faschingspuppen

Eine Ausnahme ist der Opferkult der Azteken. Er stand tatsächlich im Zentrum ihrer Religion. 13 Gottheiten forderten blutigen Tribut. Ohne Menschenopfer, glaubte man, würde die Sonne nicht mehr aufgehen. Es hat – vor allem in Mexiko selbst – an Versuchen nicht gefehlt, die Berichte der spanischen Eroberer als gezielte Lügen und die grausigen Bilder der Vorfahren als symbolische Darstellungen zu entkräften. Aber die Befunde der Archäologen sind eindeutig.

Freilich fielen solche Exzesse, wie bei den Chimú in Peru, schon in eine Phase der Dekadenz und des Niedergangs. Als die Aztekenherrscher begannen, ihre Nachbarn zu überfallen und im großen Stil Gefangene zu opfern, schlugen sich die Unterdrückten auf die Seite der Spanier. Nur so konnten die Konquistadoren das Aztekenreich einnehmen – und selbst brutale Gewalt ausüben.

Dennoch: Für jede Kultur markiert der Verzicht auf Menschenopfer einen entscheidenden Zivilisationsschritt. Als Zeugnis einer solchen Zäsur ist auch die biblische Geschichte von der Beinahe-Opferung des kleinen Isaak zu verstehen. Schnell gilt dann die bisherige Praktik als barbarisch oder als schwere Sünde. Ersatz bietet ein Pars-pro-toto-Opfer, bei den Juden die Beschneidung. Oder eine Tötung „in effigie“ – wie die Verbrennung von Puppen im Fasching.

DER NÄCHSTE SCHOCKER

Bei Herxheim in Rheinland-Pfalz graben Archäologen seit 1996 eine kleine prähistorische Siedlung aus. Dabei haben sie die Knochen von mindestens 1000 Menschen gefunden, die innerhalb kurzer Zeit vor Ort getötet, zerlegt, entfleischt und vielleicht auch gegessen wurden. Die Opfer waren Fremde, die man vermutlich an diesen Ort getrieben hat. An dem Schlachtfest nahmen offenbar Gäste teil, die Geschenke mitbrachten. Der Abschlussbericht der Forscher erscheint in Kürze. Zwei Unterschiede zum Opferritual in Peru: Das Massaker in der Pfalz fand vor 7000 Jahren statt, und es konzentrierte sich nicht auf Kinder.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2019)

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