„Trennt nicht in wir und die anderen“

Bundeskanzler Sebastian Kurz (l.) und Vizekanzler Heinz-Christian Strache bei der Gedenkveranstaltung im Kanzleramt.
Bundeskanzler Sebastian Kurz (l.) und Vizekanzler Heinz-Christian Strache bei der Gedenkveranstaltung im Kanzleramt.APA/HERBERT PFARRHOFER
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Vor 74 Jahren endete der Zweite Weltkrieg offiziell: Ein „Tag der Freude“ – und Anlass für Mahnungen.

Wien. Die Kindergartenpädagogin trägt ein gestreiftes Kleid, die Kinder haben weiße Kniestrümpfe an. Viele Mädchen haben eine Masche im Haar, manchen Buben wurde eine Krawatte umgebunden: 35 Kinder sind auf dem Schwarz-Weiß-Foto aus der ehemaligen Tschechoslowakei zu sehen, das am Mittwoch im Bundeskanzleramt in die Höhe gehalten wird. Nur eines davon hat überlebt.

Jahrzehnte nach der Aufnahme des Bildes zeigt es Gerda Frey in die Runde. Sie ist als Zeitzeugin zur Gedenkveranstaltung der Bundesregierung anlässlich des 8. Mai geladen. Die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht und damit das offizielle Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa jähren sich zum 74. Mal.

„Ich wurde von der Fremdenpolizei gesucht, wurde über Nacht in eine andere Provinzstadt gebracht“, erzählt Gerda Frey. „Wäre ich geblieben, wäre ich wie alle anderen Kindergartenkinder auf dem Bild in Auschwitz vergast worden.“

Freys Geschichte ist eine von Flucht, Terror, aber auch Hoffnung: Sie beginnt im burgenländischen Mattersburg auf der Suche nach einem Staat, der bereit war, ihrer Familie Schutz zu gewähren. „Es gab aber kein Land, das uns aufnehmen wollte.“ Ihre Rettung fand Frey in Budapest bei einer Familie, die sie zu Hause und in ihrer Bäckerei versteckte. Bis zu dem Tag, als zur Befreiung russische Soldaten hereinkamen, „ich werde das Gesicht meiner Eltern, das Weinen, das Lachen, nie vergessen“.

Und auch das sei der 8. Mai, wird später Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) bei seiner Ansprache sagen: „Ein Tag der Freude.“ Das Datum markiere einen Wendepunkt der österreichischen und europäischen Geschichte. Vor 75 Jahren „war Europa ein Kontinent der Schlachtfelder. Heute leben wir in einem geeinigten Europa.“ Und trotz „all der Meinungsverschiedenheiten, die es in der Politik gibt, stellt eigentlich niemand dieses Friedensprojekt infrage.“

Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) dankte den beiden Zeitzeuginnen, Gerda Frey und Helga Kinsky, dafür, dass sie „sehr, sehr bewegende Erlebnisse zum Ausdruck gebracht haben“. „Gerade die jüngere Generation kann es oftmals gar nicht fassen, was Sie durchmachen mussten.“ Der „industrielle Massenmord“ an Juden mache fassungslos. „Eine Religion, die man nicht bereit war zu akzeptieren.“ Man müsse „alles daran setzen, dass sich so etwas – gleich in welcher Form, Ideologie oder unter dem Mantel welcher Religion“ – niemals wiederhole.

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Die beiden Zeitzeuginnen hatten auch einen Rat an jüngere Generationen: „Geschichte lernen, für Politik interessieren, keine plakativen Sager akzeptieren, sondern sich eine eigene Meinung bilden“, sagt Helga Kinsky. Und Gerda Frey mahnt: „Bitte, ihr Jungen, trennt nicht die Menschen in wir und die anderen. Ich habe zu den anderen gehört. Es kann jedem von euch passieren.“

Die mahnenden Ansprachen gingen am Abend weiter. Das Mauthausen Komitee Österreich veranstaltete das „Fest der Freude“ mit einem Konzert der Wiener Symphoniker auf dem Heldenplatz. Bundespräsident Alexander Van der Bellen hielt eine Ansprache. Zuvor warnte er vor dem Gewaltpotenzial des von FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache verwendeten Begriffs „Bevölkerungsaustausch“: „Der letzte groß angelegte Feldversuch, homogene Bevölkerung herzustellen, war die deutsche Volksgemeinschaft der Nazis. Das war natürlich nur mit Gewalt durchzusetzen.“ (ib)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.05.2019)

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