Heftige Vorwürfe im Hause Amazon

Der Scanner in der Hand zählt die Pakete mit. Wer das Soll im Amazon-Lager nicht erfüllt, fliegt, sagt Arbeiter N..
Der Scanner in der Hand zählt die Pakete mit. Wer das Soll im Amazon-Lager nicht erfüllt, fliegt, sagt Arbeiter N..APA/AFP/ADRIAN DENNIS
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Überwachung, Schikanen, Angst vor Kündigungen. Nach dem Bericht eines Arbeiters aus dem Weinviertler Amazon-Lager prüfen die Behörden die nächsten Schritte.

Wien. Wenn Maarten N. heute in Großebersdorf zur Arbeit erscheint, dürfte die Kündigung für ihn bereitliegen. Davon ging er aus, als er sich am Mittwoch in einem Wiener Café in seiner schwarzen Arbeitsjacke mit dem orangen Amazon-Logistics-Logo vor die Journalisten setzte, um seine Geschichte zu erzählen.

Maarten N. ist fast seit der Eröffnung des ersten österreichischen Amazon-Verteilzentrums im niederösterreichischen Großebersdorf im Oktober 2018 dort beschäftigt. Wie die meisten Kollegen arbeitet er für eine Leiharbeitsfirma nach deren Branchen-Kollektivvertrag. Schon dieses Detail habe Barbara Teiber, Chefin der Privatangestelltengewerkschaft GPA-djp, interessiert, als N. jüngst auf sie zukam. Leiharbeiter, sagt Teiber, seien nur zur Bewältigung von Auftragsspitzen heranzuziehen. Amazon habe im Lager aber nur 16 der gut 150 Mitarbeiter selbst angestellt. „Das ist ganz klar ein Missbrauch.“

Die Geschichte des gebürtigen Holländers geht aber weiter. Er berichtet von Handscannern, die die Arbeitsleistung jedes einzelnen Lagerarbeiters auswerten – wer nicht schnell genug sei, fliege. Er berichtet von einem unschaffbaren Arbeitspensum inmitten von unsicheren Regaltürmen und von Verletzungen. Von Kameraüberwachung und Strafen wie der Arbeit unter permanenter Aufsicht, wenn jemand seine Schutzkleidung vergisst. „Wir gehen morgens in die Arbeit und wissen nicht, ob wir am Ende der Woche den Job noch haben.“ Die Verantwortung für die Arbeitsbedingungen würden die Leiharbeitsfirma und Amazon hin- und herschieben.

„Wir denken nicht, dass die Vorwürfe die Wirklichkeit in unseren Gebäuden widerspiegeln“, heißt es auf Nachfrage der „Presse“ beim Onlinehändler. Gesundheit und Sicherheit der Mitarbeiter hätten oberste Priorität. Und: „Wie jedes Unternehmen erwarten wir eine bestimmte Leistung von den Mitarbeitern.“ Für Teiber decken sich die Schilderungen, für die sie eine zweite anonyme Quelle habe, mit Berichten ausländischer Gewerkschaftskollegen. In Deutschland fordern sie seit Jahren höhere Gehälter. In Großbritannien zeigten Investigativrecherchen, dass gestresste Mitarbeiter in Flaschen urinierten. In den USA gab es im April einen Skandal um einen Algorithmus, der langsame Arbeiter automatisch kündigt.

„Sehen uns das sehr genau an“

In Österreich schaltet die Gewerkschaft nun Arbeitsinspektorat, Sozialversicherung und Sozialministerium ein, die die Sicherheit am Arbeitsplatz und die Dienstverträge prüfen sollen. Aus dem Sozialministerium heißt es zur „Presse“: „Wir sehen uns das sehr genau an und werden die Vorwürfe, die auf dem Tisch liegen, umfassend prüfen.“ Teiber forderte aber noch etwas: einen sozialpartnerschaftlichen Schulterschluss. Diesen sicherte der Handelsverband am Mittwoch in Rekordzeit zu. Die neue Eintracht bewiesen Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Umgang mit Onlinehändlern wie Amazon bereits, als sie der türkis-blauen Ex-Regierung jüngst einen Forderungskatalog überreichten. Tenor: Die Politik unternehme zu wenig, sei es bei der Digitalsteuer oder den Bedenken, dass Amazon seine marktbeherrschende Stellung auf seiner Plattform ausnütze. Im zweiten Punkt ermittelt die Bundeswettbewerbsbehörde (BWB) seit Februar. Ein erstes Ergebnis sei im Sommer zu erwarten, hieß es dort am Mittwoch.

Handelsverband-Chef Rainer Will ist von den Vorwürfen von Maarten N. „nicht überrascht“. Man gehe zwar selbst nicht gegen den Einzelfall in Großebersdorf vor, betont er. Aber die Gewerkschaft habe seine Unterstützung. Wills Motivation ist leicht erklärt: „Prekäre Arbeitsbedingungen werden erstmals nach Österreich importiert und schaffen den unfairen Wettbewerb, der zum Kaufkraftabfluss aus Österreich führt“, sagt er. Wie die KMU-Forschung vergangene Woche ausrechnete, summiert sich dieser auf 4,5 der 7,5 Mrd. Euro Onlineumsätze, die pro Jahr ins Ausland abfließen.

In der Wirtschaftskammer ist man distanzierter: Leiharbeitskräfte gehörten nicht zur Sparte Handel, sagt Handelsobmann Peter Buchmüller. Und die geschilderten Arbeitsbedingungen fielen – nach Prüfung ihrer Richtigkeit – nicht in ihre Zuständigkeit. „ Sie sind Sache der Arbeits- und Sozialgerichte.“ Richtig sei aber: „Wenn sehr viel mit den günstigen Arbeitskräften gearbeitet wird, schadet das dem österreichischen Handel.“

Maarten N. sagt, er hoffe, dass sich die Arbeitsbedingungen verbessern lassen. Er selbst wird sich wohl einen anderen Beruf suchen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.06.2019)

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