Im Olymp der Obdachlosen

„Missing People“ des ungarischen Filmemachers Béla Tarr: eine Hommage an 250 Sandler, so meditativ wie monumental.

Darf man Menschen ausstellen? Die Kamera lässt sie wie in einem Reigen vorbeiziehen. Sie schaut ihnen geduldig zu, beim Feiern im barocken Festsaal, wo sie scheinbar so gar nicht hinpassen, und bei den bescheidenen Ritualen ihres randständigen Alltags. „Missing People“, Béla Tarrs Projekt mit 250 Obdachlosen in Wien, ist das Gegenteil von einem Sozialporno, der im Dreck wühlt und seine Protagonisten der Lächerlichkeit preisgibt. Es ist auch kein Sozialkitsch: Hier werden nicht Betroffene instrumentalisiert, um die Öffentlichkeit betroffen zu machen. Tarr stellt Menschen aus, ohne ihnen die Würde zu nehmen. Im Gegenteil: Er gibt sie jenen, die sie angeblich verloren haben, wieder zurück.

Nach „Das Turiner Pferd“ von 2011 wollte der große ungarische Regisseur keinen Film mehr drehen. Seither hoffen seine Fans inbrünstig, dass er es sich anders überlegt. Seine Arbeit für die Festwochen ist ein starker Trost. Zwar nur eine Installation mit bewegten Bildern, die ohne Worte für sich sprechen, aber doch mit Insignien seines Stils: langen Einstellungen in Schwarz-Weiß, die den Betrachter einsinken lassen in die Realität der Figuren. Hier, mangels Handlung und Text, in eine existenzielle Realität, die jeder für sich erschließen muss. Was sind da für Charakterköpfe zu entdecken! Ob alt oder jung, alle wirken – nein, eben nicht „vom Leben gezeichnet“, wie man gern gedankenlos plappert, sondern vom Leben gereift. Die meisten bleiben ernst. Fühlen sie sich unwohl? Nein, wohl eher ernst genommen, vielleicht zum ersten Mal.

Wie eine Kur für Misanthropen

Nicht alles ist gelungen, manche Szene entbehrlich. Aber im Ganzen wirkt der Abend (noch drei Mal in der Halle E im Museumsquartier) wie eine Kur für Misanthropen: Auch wenn einem die Menschen gerade mächtig auf die Nerven gehen, nach eineinhalb Stunden Béla Tarr liebt man sie wieder. Seltsam: Diesen Sandlern, die so gar nichts Wichtiges zu tun haben, ist nie langweilig. Man hat den Eindruck, dass sie sich ständig profunde Gedanken machen, anders als wir Wichtigtuer, die für wirklich Wichtiges nie Zeit haben. Wie stand das bei Sartre? „In diesem Fall wird es geschehen, dass der Quietismus des einsamen Trinkers der müßigen Geschäftigkeit des Lenkers von Völkern überlegen ist.“ Dieser Fall ist bei den „Missing People“ eingetreten. Man vermisst sie schon, wenn man nach Hause geht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2019)

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