Telemedizinische Assistenzsysteme: Level für Level zum Reha-Erfolg

Arme in die Höh'! Die richtige Lösung findet sich im oberen Antwortfeld.
Arme in die Höh'! Die richtige Lösung findet sich im oberen Antwortfeld.(c) Silverfit
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Tragen computerunterstützte Bewegungsspiele zur körperlichen Aktivierung kranker oder älterer Menschen bei? Ein Langzeittest legt das nahe.

Den Utrechter Spieleentwickler Silverfit hatte der Informatiker Rainer Planinc schon länger auf dem Radar. Doch live und in Aktion gefiel dem Informatiker und CEO des Wiener Start-ups Cogvis der Gaming-Ansatz aus den Niederlanden noch um einiges besser. Beim europäischen Sturz-Festival 2015 in Stuttgart stellte Silverfit computergestützte Spiele für Reha-Zentren vor, mit denen Patienten – angeleitet durch Physiotherapeuten – ihre Physis auf Vordermann bringen.

„Ganze Kraftkammern, darunter Beinpressen, Ergometer und Laufbänder, binden die Holländer an ihre Spielewelten an“, sagt Planinc. Cogvis, auf altersgerechte Assistenzsysteme spezialisiert, zog bei dem Festival hingegen mit einem intelligenten Sturzsensor die Aufmerksamkeit auf sich. Die Achse Utrecht–Wien war geboren. Heuer schlossen die beiden Firmen ihr EU-Projekt „Enter-Train“ ab. Erstmals sollten unbetreut lebende Menschen der Generation 65 plus, womöglich in einer längeren Reha-Phase im Haushalt auf sich allein gestellt, von der Spieletechnologie profitieren. Auch Menschen mit chronischen Erkrankungen wie der Atemwegserkrankung COPD oder Herzinsuffizienz standen im Fokus. „Und wir wollten eine finanziell erschwingliche Lösung finden, bei der sich das Spielelevel von allein an die körperliche Verfasstheit der Person anpasst“, sagt TU-Informatiker Martin Kampel, Mitgründer von Cogvis.

Eine Highscore-Liste motiviert

Im ersten Schritt erhoben Soziologen der Uni Wien unter 300 Menschen im Zielgruppenalter deren grundsätzliche Neigung, Computern bei der körperlichen Aktivierung eine Chance zu geben. Das Fazit machte Mut: Fitness- oder Übungsspiele, auch Exergames genannt, werden gut angenommen, weil sie ohne Eingabemittel wie Maus oder Tastatur auskommen. „Man spielt drauflos“, so Planinc. Beanstandet wurde von Testern mit Sehschwäche zunächst die geringe Bildschirmdiagonale. Beim zweiten Testlauf 2018 – er lief ein ganzes Jahr mit 27 Testern aus Österreich sowie 23 Probanden aus den Niederlanden und wurde von Physiotherapeuten begleitet – war der Monitor um gut ein Drittel größer. Und elektronische Highscore-Listen, ein riesiger Motivator, waren eingeführt.

Mit Schwanzlurch und Fuchs

Spieleseitig war zu dem Zeitpunkt ebenfalls für Abwechslung gesorgt. Probanden verleitete die richtige Antwort in einer Bildschirmecke eines Rechenspiels dazu, sich mit dem Körper dorthin zu strecken. Ein niedlicher Süßwasser-Schwanzlurch animierte sie dazu, kräftig an den Enden eines Fitnessbands zu ziehen, um ihn in der Unterwasserwelt vorankommen zu lassen. Und einem hungrigen Fuchs verhalfen Spieler in einem Geschicklichkeitsspiel durch Neigung des Oberkörpers zur Labsal an süßen Trauben.

Um möglichst alle Muskelregionen zu trainieren, sind die Spiele pro Session sequenziell getaktet. Zwei Sensoren wachen darüber, dass sie fordern – aber nicht überfordern. Der erste, ein 3-D-Sensor an der Front der Spielekonsole, interpretiert keine Farbwerte, sondern ermittelt die aussagekräftigeren Distanzwerte zwischen Sensor und Nutzer. „Das System kennt damit die exakte Position des Spielenden“, erklärt Kampel.

Gerätekosten unter 300 Euro

Der von Cogvis schon 2014 entwickelte Sensor zur Sturzerkennung kommt hier – abgewandelt – als zweiter Sensor zum Einsatz. Er soll während des Spiels Stürze verhindern. An einer beliebigen Zimmerwand angebracht, wacht er über den körperlichen Zustand des Spielers. Entscheidend sind Parameter wie Schrittlänge, Körperhaltung oder Kopfneigung. „Vor allem die Ganggeschwindigkeit hat Aussagekraft darüber, wozu der Spieler an einem Übungstag in der Lage ist“, so Planinc. Je nach Befund werden die Grenzwerte zur erfolgreichen Aufgabenerfüllung hinaufgeschraubt oder herabgesetzt.

Das Ziel, systemseitig unter 300 Euro zu bleiben, wurde – wenn auch knapp – erreicht. Wichtiger: Die Physis steigerte sich über das Testjahr hinweg spürbar. Das zeigten Analysen der Ganggeschwindigkeit, die sich bei der Hälfte der Probanden nach einem Jahr verdoppelt hatte. Ein entsprechendes Produkt soll demnächst schon Marktreife erlangen.

LEXIKON

Exergames sind Videospiele, die ein personalisiertes Training zur körperlichen Aktivierung älterer Menschen, chronisch Erkrankter oder Reha-Patienten zum Ziel haben. Statt mit dem Gamepad erfolgt die Steuerung sensorunterstützt mit dem Körper.
Beim „Timed up and Go“-Test messen Physiotherapeuten Fortschritte bei der Ganggeschwindigkeit auf einer zweimal abzuschreitenden Drei-Meter-Wegstrecke. Im „Enter-Train“-Projekt lieferten Sensoren der Spielekonsole dazu automatisiert valide Messergebnisse.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.09.2019)

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