Graffiti - ist das Kunst?

Graffito am Donaukanal von Yiouri Cansell, Andreas Pisner.
Graffito am Donaukanal von Yiouri Cansell, Andreas Pisner.(c) Gilbert Novy/„Kurier“/Picturedesk
  • Drucken

Graffiti und Tags sind in den Galerien angekommen. Das Genre Street-Art scheint etabliert zu sein. Und doch bleibt eine Irritation: Ist das Kunst?

Plötzlich ist „das Auge“ da, im Frühjahr hab ich es erstmals bemerkt: auf Betonbegrenzungen auf der Straße, bei der U6, Station Alser Straße . . . effektiv stilisiert, schnell gesprayt: ein Kreis von der Größe einer Schallplatte, geschnitten von einem Bogen, der zum Lid wird, weil darunter eine Pupille zu erkennen ist. Dass immer etwas Farbe nach unten verläuft, dürfte vom schnellen Sprayen kommen, es erinnert an Tränen oder verwischte Schminke. Das Auge ist ausdrucksstark genug, dass man diskutieren könnte, ob es nun munter oder nachdenklich blickt. Die Kinder entdecken es überall, auch in kleiner Form, vorn auf den Stufen der U-Bahn-Station.

Vor ein paar Jahren gab es einen Lautsprecher, am Zimmermannplatz an einer Hausecke, und einen Kiwi-artigen Vogel mit altmodischer Unterhose, wo war der nochmal? Wer die Motive gesehen hat, weiß, wovon ich spreche: von elaborierten Grafiken, Graffiti oder korrekter, Street-Art. Frei gesprayt, im Gegensatz zu anderen Techniken wie Schablonen, Aufklebern oder kleineren Arbeiten mit Plakatschreibern – das können Namenslogos sein, oder alles, was man wiedererkennt.

Dachte man bei Graffiti früher an mehr oder weniger elaborierte Schrift, erinnern viele der aktuellen Motive eher an Comics – das Auge ist ein interessantes Mittelding, stark stilisiert und doch so konkret – Kunst? Gehören amtlich bestellte Murals und hochpreisige Banksys noch zum selben Genre wie die Puber-Blockbuchstaben und andere, scheinbar noch banalere Markierungen? Als sich das Wien Museum vor dem Umbau der Street-Art öffnete, gab es viel positives Feedback von älteren Besuchern, weil ihnen endlich jemand diese seltsamen Zeichen erklärte. In Podiumsdiskussionen wurde differenziert zwischen Style-Writing – den bunten, dynamischen Schriftzügen – und anderen Techniken der Street-Art. Ist das eine Kunst und das andere Dekor?

Dazu kommen die Fragwürdigkeiten des aktuellen Kunstbetriebs, wie sie im „Spectrum“ am 29. Juni Michael Scharang und Franzobel sehr treffend aufzeigten. Dem scheint sich Street-Art erfolgreich zu entziehen. Sie entwickelte ihre Stilmittel und Mechanismen ohne Einwirkung eines Kunstmarktes, fernab der offiziellen Repräsentation von Kirche, Adel und Bürgertum.

Repräsentation von unten

In deren Dienste entstand aber der Großteil dessen, was immer noch einen ästhetischen Kanon bildet. Selbst viele Gegenentwürfe entwickeln ihren Sinn eben nur als Gegenentwürfe. Street-Art markiert einen Ausweg aus der von Franzobel konstatierten Krise der Kunst, die vorrangig fragwürdigen Leuten als Anlage dient, und sie könnte hinausführen aus der postmodernen Sackgasse der Referenzen und Ironien (siehe Scharang).

Street-Art funktioniert anders. Sie ist definitiv kein Gegenentwurf zu einem künstlerischen Kanon, mit dem sich jemand in seiner gesellschaftlichen Machtposition repräsentiert. Street-Art ist quasi Repräsentation von unten. Wer Street-Art macht, sagt: Ich bin (auch) da. Was er oder sie dazu verwendet, ist egal, Hauptsache, es ist eine eindeutige Marke. Das Bedürfnis nach solcher Präsenz steigt offenbar mit der Größe der Stadt.

Ein Freund lebte schon einige Jahre in London. Wir gingen durch eine finstere Gasse, viele Häuser standen leer. Vermutlich befand sich diese Gasse am Totpunkt zwischen Verlotterung und Gentrifizierung, denn wir waren auf dem Weg zu einer angesagten Bar. Jemand hatte eine alte Mikrowelle auf der Straße deponiert. Auf dem weißen Gerät prangte ein fetter Tag, eine „Kraxe“, einem chinesischen Schriftzeichen nicht unähnlich. „Das liebe ich an London“, sagte der Freund, „die Urbanität: Das kann hier noch nicht lange liegen – aber schon hats jemand getaggt!“ Frisch und fett glänzte der Schriftzug, angebracht mit einem dicken schwarzen Plakatschreiber (wer sich über Wiener Zustände beschwert, dem wird eine Woche in London Heilung verschaffen, nicht nur in Sachen Graffiti, das nur nebenbei). Egal, ob in London oder Wien, wer die Schriftzüge betrachtet, wird nicht alle entziffern, aber viele wiedererkennen. Und bald feststellen, dass es manche in einfacher wie in elaborierter Form gibt, als Lackstift-Tag und als Graffiti. Das eine kann die Übung für das andere sein.

Im Wien Museum berichtete der unter seinem Künstlernamen beziehungsweise Tag Phekt bekannte Moderator der Diskussion „Mythos Graffiti“, wie er als Jugendlicher nahe Linz mit Freunden an Bahngleisen entlang pilgerte, um die Schriftzüge an den Lärmschutzwänden zu studieren: Welche Farben hatten die verwendet? Wie konnte man so was sprühen, wo es noch keine Fachgeschäfte für Street-Art-Bedarf gab?! Die Dynamik der Schriften faszinierte und motivierte die Clique, und die starke Präsenz. Street-Artists bespielen den öffentlichen Raum, mehr oder weniger legal, aber keineswegs planlos.

„Man macht keine Kunst auf Kunst“, erklärte Skero, bekannt als Musiker, aber auch bildender Künstler, bei der Diskussion. So hatte es ihm sein Mentor erklärt, den er als junger Sprayer in der Szene gefunden hatte. Tatsächlich bespielen Graffiti primär die leeren Flächen funktionaler Architektur, die von schmucklosem Beton geprägt ist. Da sprayte man hin, als es noch keine definierten Freiräume gab. Dafür spricht Pragmatismus, sind doch glatte Wände effektiver zu bearbeiten als strukturierte. Ausnahmen bestätigen die Regel, der berüchtigte Wiener „Puber“ sprühte seine Blockbuchstaben auch quer über alte Holztüren. Selbst in der Szene war er nicht unumstritten, die Quantität seiner Präsenz war legendär, elaborierte Schriftzüge von ihm dagegen selten.

Er war zu einer Zeit aktiv, als das Bemalen bestimmter Flächen bereits legal möglich war. Das hob den Anspruch, dafür verliert die Ästhetik der Schnelligkeit ihre zentrale Rolle. Manche neuen Stile tragen noch den Spirit des klassischen Style-Writings in sich. An die Möglichkeiten von Dose und Stift knüpfen Zerlegungs- und plastische Effekte an. Tiere sind nun beliebt, und natürlich überdimensionale Maßstäbe, wie bei den Damen von Frau Isa, die auch im Wien Museum vertreten war. Sie repräsentiert eine Generation jüngerer Street-Artists, die einfach die große Fläche schätzen, die eine Wand bietet. Exzellente Werke werden im günstigsten Fall nicht so schnell übermalt, weil die anderen Respekt davor haben. Aber nichts hat Anspruch auf Bestand, das akzeptiert Frau Isa und hat Verständnis: „Ich weiß doch, wie es ist, wenn man noch jung ist und ganz gierig aufs Malen.“ Sie arbeitete immer nur auf legalen Flächen.

In Berlin sah ich krakelige, aber riesige, zweifarbige Buchstaben an einem Wohnhaus mitten in Kreuzberg von einer historischen Aktion. Sie gehörten dort zu den ersten Graffiti, die durch Abseilen entstanden, wie ich bei einer Street-Art-Stadtführung 2015 erfuhr. Ob sie noch da sind? Mit dem bunten Treiben der Kreuzung ergaben die Schriftzeichen ein stimmiges Gesamtbild. Die Dichte der großen Stadt steigert die Vielfalt der Street-Art. In Berlin eröffnete mir die Führung den Blick für kleine, eigens gebastelte Figuren, die jemand auf Ampeln und Verkehrszeichen setzte. Kein Vandalismus, es war eine spielerische Ergänzung des öffentlichen Raumes. In Berlin geht Street-Art fließend über in den Aktionismus, der im Internet per Video dokumentiert wird: Maskierte Typen etwa organisieren ein halsbrecherisches Picknick auf der U-Bahn, inklusive Prosecco. Berlin mit seinen vielen freien Flächen inspiriert vielleicht besonders dazu, die Stadt als Spielwiese zu begreifen. Als sie noch geteilt war, sammelten sich hier die Unangepassten, und die westseitig bemalte Mauer war Ausdruck von Freiheit und Widerstand gegen die Teilung – positiv, politisch und akzeptiert.

In unserer Werbung signalisieren bemalte Wände junge Urbanität, in manchen Ländern dienen sie der Agitation und Propaganda. Botschaften und Parolen können dabei in kunstvolle Darstellungen verpackt sein, sie zeigen, wie wirkmächtig diese Präsenz ist, folgen aber einem ganz anderen Prinzip als unsere Street-Art: Hier kontrolliert die offizielle Macht die Wände, die bei uns primär der individuellen Selbstermächtigung Plattform bieten. FIGHT THE LAW steht gut lesbar, aber in mäßig origineller Schrift auf einem frisch renovierten Gründerzeithaus in meiner Nachbarschaft. Violette Buchstaben auf dem frischen Hellgrün, die Farben kontrastieren sehr stimmig. Diese subtile Ästhetik passt gar nicht zu dem plakativen Slogan. Das steht da nun schon ziemlich lange und lässt die Auflehnung irgendwie ins Leere laufen. Am Ende haben die Hausbesitzer das selbst gesprüht, um den Wert zu steigern.

Ein echter Banksy an der Wand könnte das nämlich tun. Dessen Werke wurden schon vor Ort konserviert oder professionell abgetragen – auch von Kunstdieben. Die Identität dieses Künstlers ist bis heute unklar, aber er hat eine eindeutige Ästhetik. Solche „Inside“-Werke werden regulär gehandelt. Hier geht Street-Art in den Kunstbetrieb über, bleibt aber zugleich unmittelbar und unkonventionell. Über seine Homepage lässt sich der Künstler kontaktieren und informiert über nicht autorisierte Ausstellungen. Banksys Werke tauchen immer wieder auf irgendwelchen Wänden auf. Sein Stil inspirierte viele zur Arbeit mit Schablonen, die primär der Schnelligkeit wegen verwendet wurden und neue Motive entstehen ließen.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.