Der Leithammel der deutschen Literatur

„Im Falle Reich-Ranickis war das Fernsehen als Eitelkeitsmaschine seines Daseins Glück und Unglück.“

Sein Haupt erschien so unzweifelhaft bedeutend, sein Mienen- und Gestenspiel war dermaßen entschieden, eindringlich, ausdrucksvoll gewesen, dass alle höchst Wichtiges vernommen zu haben meinten...“ So beschreibt Marcel Reich-Ranickis Lieblingsschriftsteller Thomas Mann den Holländer Pieter Peeperkorn im „Zauberberg“. Das könnte auch auf jede Äußerung von Reich-Ranicki zutreffen, der morgen 90 wird. Doch unterscheidet die zwei Männer Wesentliches. Peeperkorns bedeutende Ausstrahlung kaschiert nur, dass er herzlich wenig zu sagen hat – was nun wirklich keiner von Marcel Reich-Ranicki wird behaupten wollen.

Aber wer vermag, wenn er den lispelnden literarischen Oberschulmeister der deutschen Nation beim Dozieren zusieht und -hört, zu unterscheiden, was Geste und was Gedanke, was Inhalt und was Inszenierung ist? Im Imposanten steckt immer die Pose. Der konnten sich Reich-Ranickis Zuhörer und -seher in 14 Jahren „Literarisches Quartett“ auf ZDF kaum entziehen: dem rhetorischen Nachdruck, dem grollend rollenden „R“, dem fuchtelnden Zeigefinger, der wegwerfenden Gebärde, den schmetternden Bonmots à la: „Ich ficke, du fickst, er fickt, wir alle ficken“ ... Wie auch, die Emanzipation gelang nicht einmal den Streitpartnern der Sendung. Immer wieder traurig, wie die hochintelligente und selbstbewusste Sigrid Löffler leise wurde unter dem machohaften Poltern des Leithammels.

Löffler ging 2000, nachdem ihr Reich-Ranicki ein gestörtes Verhältnis zu Liebesromanen unterstellt hatte. In ihrer Zeitschrift „Literaturen“ schrieb sie: „Im Falle Reich-Ranickis war das Fernsehen als Eitelkeitsmaschine seines Daseins Glück und Unglück.“ Ohne TV gäbe es nicht das Phänomen dieses Literaturkritikers, der bekannter ist als die meisten der von ihm besprochenen Autoren und der mit Martin Walsers „Tod eines Kritikers“ auf gewisse Art gar zur Romanfigur wurde.


So gesehen ist paradox, dass Reich-Ranicki vor zwei Jahren mit der Ablehnung des Deutschen Fernsehpreises Furore machte. Dumm und oberflächlich sei das Fernsehen, sagte er. Fairerweise hätte er zugeben können, dass sich die von ihm kritisierten Sendungen vom „Literarischen Quartett“ nur durch den Grad der Oberflächlichkeit unterscheiden. Wie auch, bei vier Minuten Redezeit pro Buch und Kritiker? „Gibt es im ,Quartett‘ ordentliche Analysen literarischer Werke? Nein, niemals. Wird hier vereinfacht? Unentwegt. Ist das Ergebnis oberflächlich? Es ist sogar sehr oberflächlich.“ Sagte Reich-Ranicki selbst.

Oberflächlich waren seine leidenschaftlichen Elogen und Verrisse oft, aber eines waren sie nie: dumm. So umstritten seine Aktionen waren und sind, von seinem „Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke“ bis zu Invektiven gegen Autoren oder Kritikerkollegen – sie waren stets klar. Damit ist Reich-Ranicki der personifizierte Kontrapunkt zur aktuellen Entwicklung, in der Kritik und Marketing immer mehr verschwimmen und Kritiker vor allem eines sind: freundlich. Reich-Ranickis Leitsatz dagegen: „Deutlichkeit ist die Höflichkeit der Kritiker.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2010)

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