„Orest“ basiert auf Euripides’ Drama. Es geht um Schuld, Rache und neue Schuld.
Mythen und Popsongs

Neue Töne an der Wiener Staatsoper

Eine Leistungsschau zeitgenössischer Opern bietet das Haus am Ring im Herbst.

Uraufführung“: Das lesen Opernfreunde nicht alle Tage auf den Theaterzetteln der großen Häuser. Dabei war es jahrhundertelang selbstverständlich, das Publikum gerade mit Novitäten anzulocken – denn erst mit einiger Verzögerung hat sich jener Opernkanon herausgebildet, der heute die Spielpläne beherrscht. Das hin und wieder geschmähte, in Wahrheit aber unschlagbare Repertoiresystem der Wiener Staatsoper macht es zum Beispiel möglich, allein in der Spielzeit 2019/20 nicht weniger als knapp 60 verschiedene Werke zu spielen, die sich vom Barock bis zur Gegenwart spannen.

Die „Weiden“ handeln von einem großen Strom, dessen Anwohner sich verwandeln.
Die „Weiden“ handeln von einem großen Strom, dessen Anwohner sich verwandeln.(c) Michael Poehn

Direktor Dominique Meyer präsentiert in seiner Abschiedssaison dabei nicht nur weitere Uraufführungen, sondern setzt in einer Art stolzer Bilanz seiner Ära gleich einige Produktionen zeitgenössischer Opern neuerlich an. Im März ziehen etwa, gleichsam als Nachzügler, Péter Eötvös’ feinfühlige „Drei Schwestern“ wieder im Haus am Ring ein; schon im November aber gibt es eine Art Doppelschlag zeitgenössischen Musikdramas. Zunächst kehren, ein gutes Jahr nach ihrer Uraufführung, „Die Weiden“ zurück: In seinem Libretto verquickt Durs Grünbein aktuelle Zeitkritik, die Schatten unheilvoller Vergangenheit und eine zuletzt sich gegen den Menschen erhebende Natur. Ein Wiederhören hat sich die Musik von Johannes Maria Staud jedenfalls verdient, die in verblüffender Bandbreite von Popsongs über tonmalerisch-symphonische Zwischenspiele bis hin zu elektronischen Effekten reicht.

Graeme Jenkins übernimmt den Taktstock von Ingo Metzmacher, die fast unveränderte Besetzung führt Publikumsliebling Tomasz Konieczny als Peter an, nicht zuletzt sekundiert von Udo Samel in der Sprechrolle des zwielichtigen Komponisten Krachmeyer (7., 9., 12. 11.). Ins Zwielicht von Schuld und Sühne, Recht und Unrecht führt auch „Orest“, eine Art Fortsetzung von Strauss’ „Elektra“ über den gequälten Muttermörder, aus der Feder von Manfred Trojahn, der zu den erfolgreichsten zeitgenössischen Opernkomponisten zählt. Wer im Frühling eine Vorstellung der umjubelten Premierenserie in Marco Arturo Marellis stimmungsvoll-düsterer Inszenierung erlebt hat, wird sich gewiss auf Laura Aikin freuen, die wieder die glamouröse Helena gibt, und zugleich auf den neuen Orest des großartigen Charakterbaritons Georg Nigl neugierig sein (14., 17., 20. 11.). Dazu kommen noch kurz vor Weihnachten „Persinette“, eine neue Märchenoper für Kinder von Albin Fries (ab 21. 12.), sowie im Februar die Wiederaufnahme von „Pünktchen und Anton“, dem Kinderopernerfolg des leider unlängst verstorbenen Iván Eröd (16. 2.).

„Orest“
„Orest“ (c) Michael Poehn

Zuneigung zu Außenseitern. Mit höchster Spannung wird freilich die diesjährige „große“ Uraufführung erwartet: Am 8.  Dezember feiert Olga Neuwirths „Orlando“ Premiere im Haus am Ring. Neuwirth nur als Komponistin zu bezeichnen, wird der vielfältigen Arbeit der 1968 in Graz geborenen Künstlerin nicht gerecht. Dass sie das Libretto (nach dem Roman von Virginia Woolf) gemeinsam mit der franko-amerikanischen Dramatikerin Catherine Filloux erarbeitet hat, ist nur die Spitze des Eisbergs: Neuwirths Material kommt aus Sprache und Klang, Film und Musik, Wort, Bild und auch dem Raum, aus Installation und Performance, aus Comics, Pop oder auch Wissenschaft.

In Woolfs „Orlando“ durchlebt die Titelfigur Jahrhunderte und wechselt das Geschlecht: Aus einem jungen Adeligen am Hof von Queen Elizabeth I. wird schließlich eine erfolgreiche Autorin des 20. Jahrhunderts, die männliche und weibliche Rollenklischees transzendiert. Dass Filloux und Neuwirth diese Story im Libretto bis in unsere Zeit weiterführen, ist nur konsequent – und es ist symptomatisch für Neuwirths Themenwahl: Immer wieder zeigt sie besondere Zuneigung zu Außenseiterfiguren, die selbst dann, wenn sie zu Stars geworden sein mögen, ihre Verletzlichkeit behalten und vielleicht sogar an dieser zugrunde gehen.

Das gilt zum Beispiel für den Pop-Countertenor-Pionier Klaus Nomi, einen musikalischen Helden ihrer Jugend, oder auch den lange Zeit unterschätzten und missverstandenen Herman Melville, den Autor von „Moby-Dick“. Über Neuwirths Melville-Oper „The Outcast“ schrieb „Presse“-Kritiker Walter Gürtelschmied: „Neuwirths ‚Opern‘-Musik scheint vergleichbar mit der Weitläufigkeit des Meeres. Grenzenlos das Stimmungsrepertoire von Sprache, Sprechgesang, Gesangslinien wie expressiven Vokalisen – dramatisch und fesselnd in jedem Moment, ein emotionaler Mix aus Formen und Stilen. Hier Klangflächen, dort messerscharfe Akkordspitzen, unberechenbar wie das Spiel der Wellen, die entweder schmeicheln oder töten.“

Mezzosopranistin Kate Lindsey, zuletzt als androgyner Nerone in Jan Lauwers Salzburger Festspiel-„Poppea“ gefeiert, übernimmt die Titelrolle, doch vereint die Besetzung – wie so oft bei Neuwirth – auch Performer außerhalb üblicher Opernschubladen: z. B. die zwischen Klassik und Pop changierende Constance Hauman oder Transgender-Künstler/in Justin Vivian Bond. Als Erzählerin ist die italienische Sängerin und Schauspielerin Anna Clementi aufgeboten: Die Tochter des Komponisten Aldo Clementi ist zwischen Avantgarde, Jazz und Performance, Kabarett und Film erfolgreich und hat schon an zahlreichen Uraufführungen zeitgenössischer Musik mitgewirkt.

Tipp

„Orlando“. Premiere von ­Olga Neuwirths jüngstem Werk ist am 8. Dezember in der Wiener Staatsoper. Dirigent: Matthias Pintscher, Regie: Polly Graham.

„Die Weiden“. Johannes Maria Staud, 7., 9., 12. Nov.

„Orest“. Manfred Trojahn, 14., 17., 20. November.

("Die Presse - Kulturmagazin", Print-Ausgabe, 18.10.2019)

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