Jazz

Avantgarde mit Swing – und ohne Hierarchie

Trompeter Charles Tolliver war mit einer All-Star-Band im Porgy & Bess.

1968 nahm Charles Tolliver sein erstes Album als Bandleader auf. Dem damals 26-Jährigen, der in der Band von Jackie McLean erste Meriten gesammelt hatte, glückte es, dafür anerkannte Größen wie Herbie Hancock, Gary Bartz und Ron Carter zu gewinnen. Heuer wurde das Album neu aufgelegt. Um das zu feiern, war geplant, dass Saxofonist Gary Bartz mit auf Tournee kommt. Auf der Bühne stand dann aber Altsaxofonist Jesse Davis, der bei Einspielung des Originals erst drei Jahre alt war. Gleich vorweg: Er machte seine Sache sehr gut.

Überraschend fetzig begann das Quintett, dem Jazzstars wie Drummer Lenny White und Bassist Buster Williams angehörten. Unisono eröffneten Tolliver und Davis mit kurzen, energetischen Riffs. Die Rhythmusgruppe gab sich dagegen zunächst eher sanft. Mit der Fortdauer des Konzerts wechselten die Energiezentren. Jeder Musiker fand reichlich Raum für eigene Ideen.

Plattenlabel Strata-East

Tolliver lehnte schon als junger Mann die Hierarchie in Jazzkombos ab: Bei ihm gab es keinen Leader. Seine erste Band nannte er Music Inc., weil er alle Musiker eingemeindet wissen wollte. Seine 1971 gegründete Firma Strata-East – eines von damals nur zwei in afroamerikanischer Hand befindlichen Jazzlabels – sollte das Prinzip der Gleichheit sogar aufs Finanzielle ausdehnen. Das ging nur einige Jahre gut. Was blieb, sind Jazzklassiker wie „Glass Bead Games“ von Clifford Jordan und „Izopho Zam“ von Pharoah Sanders, aber auch Gil Scott-Herons „Winter in America“. Reissues von Strata-East-Platten werden auch von jungen Leuten begierig gekauft, Tolliver geht öfters mit seinen Strata-East All Stars auf Tournee.

Die von Tolliver und Freunden in Wien gespielten Stücke, darunter Kleinodien wie „Peace With Myself“, haben nichts an Kraft verloren. Besonders eindringlich war „Paper Man“ mit vitalem Satzspiel, sinnlichen Klavierkaskaden und entspannter Rhythmusarbeit. Tolliver ist immer noch ein Mann zwischen den Traditionen. Er liebt freien Ausdruck genauso wie saftigen Beat. „Avantgarde with Swing“ sagt er. Niemand, der im Porgy & Bess war, wird widersprechen. (sam)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2019)

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