Knapp vor dem Abgrund die Notbremse gezogen

Das jähe Ende im SVA-Honorarstreit verhindert allerdings die notwendige Radikalreform des Gesundheitssystems.

Was Leberwurst und Sauerkraut bewirken können – und möglicherweise das eine oder andere Glaserl Wein! Nach sieben Stunden beim Heurigen zogen Wirtschaftskammer-Präsident Christoph Leitl und Ärztekammer-Präsident Walter Dorner Mittwochnacht die Notbremse. Unwürdig, weil schlitzohrig oder nur ergebnisorientiert und eben gemütlich österreichisch? „Blunzn“, könnte man sagen. Denn wo und wie die Herren zu ihrem Verhandlungsergebnis gekommen sind, ist eigentlich unerheblich. Hoffen wir nur, dass sie dabei einigermaßen gesund gelebt haben.

Fakt ist aber, dass zumindest diese Sozialpartner vor ihrem Heurigenmarathon kurz vor dem Abgrund gestanden sind. Was sie nämlich in den letzten Wochen und Monaten im Streit um die Honorare für die Krankenversicherung der Selbstständigen (SVA) lieferten, war ein eindeutiger Beleg für die Sinnlosigkeit des Systems. In dem zahlen nämlich die Versicherten aller 19 großen Krankenversicherungsträger dieselben Beiträge, können aber beileibe nicht mit denselben Leistungen rechnen. Das hängt vom (Un-)Geschick ihrer Vertreter ab und davon, was in Gesprächen mit den Vertragspartnern (vornehmlich mit Ärzten) alle paar Jahre in einem Tarifkatalog fixiert wird. Es hängt an den Modalitäten der jeweiligen Kassen, die etwa von den Selbstständigen 20 Prozent Selbstbehalt einfordern, von den Versicherten der Gebietskrankenkassen aber nicht. Und es hängt an zahllosen anderen Details, über die ohnehin nur noch die wenigen versierten Sozialversicherungsexperten Bescheid wissen.

Das Erstaunliche an der ganzen Sache ist, dass just Gesundheitsminister Alois Stöger den größten Druck in dem nur neun Tage währenden vertragslosen Zustand ausgeübt hat. Er ist schließlich Gewerkschafter. Und er war Kassenobmann (der GKK in Oberösterreich). Was ist da passiert, dass einer bei diesem Background mit einer Zwangsschlichtung droht? Damit stellt ja quasi einer aus dem innersten Zirkel das eigene System infrage. Es mag an der späten Einsicht und der ministeriellen Distanz liegen. Es könnte eine Breitseite gegen die ÖVP und die von ihr dominierte Wirtschaftskammer sein. Es ist auch nicht auszuschließen, dass der Minister vor den kommenden Landtagswahlen die Gesundheitskompetenz der SPÖ unterstreichen und damit ein erzrotes Thema besetzen wollte. Und es spielt sicher auch die Angst vor einem drohenden ähnlichen Kampf um die Wiener Gebietskrankenkasse mit, die erstens weit mehr Versicherte als die SVA hat und deutlich weniger (Streit-)Geld. Es kann aber schlicht auch der Mut zu längst fälligen Reformen gewesen sein, der Stöger angetrieben hat. Warum denn nicht?

Der wurde nun jedenfalls jäh gebremst. Die Sozialpartner nahmen wieder das Heft in die Hand. Dass man im Parlament nun doch noch deren Teilentmündigung durchbringen kann, ist zweifelhaft. Der angedachte Weg, die neun Gebietskrankenkassen und vier Sonderversicherungsträger plus etliche kleinen Kassen zu fünf Regionalkassen zu komprimieren und ihnen auch noch Einfluss auf die Spitalsfinanzierung zu geben war reizvoll. Er ist damit wohl wieder versperrt. Vielleicht sitzt der Schock aber noch so tief, dass zumindest eine kleine Gesetzesänderung drinnen ist. Fixiert nämlich im Streitfall eine Schiedskommission Übergangsverträge nach Maßgabe der Wirtschaftslage, könnte Patienten der sauteure vertragslose Zustand künftig erspart bleiben. Immerhin haben in diesen neun Tagen manche Selbstständige eine Arztrechnung mit 200Prozent Aufschlag erhalten, die ihnen wahrscheinlich keiner rückerstatten wird.

Trotz allem: Es ist nicht alles schlecht, was Leitl und Dorner in den letzten Stunden ausgehandelt haben. Im Gegenteil. Zumindest im Ansatz träumt man nämlich von einer Modernisierung des medizinischen Angebots. In den nächsten Monaten wollen die einstigen Streithanseln ein System entwickeln, das grob gesagt dem Patienten mehr Service in den Ordinationen und den Ärzten trotz der herrschenden Sparzwänge mehr Geld sichert. Da ist zum Beispiel von Terminmanagement die Rede und von Rücksichtnahme bei den Öffnungszeiten der Ärzte auf die Arbeitszeiten der Versicherten. (Bleibt zu hoffen, dass das nicht ein Spezialservice für SVA-Versicherte zulasten der anderen Kassenpatienten wird.) Und da wird nicht mehr sinnlos an die ohnehin kaum vorhandene Eigenverantwortung der Patienten appelliert. Wer auf sich schaut, kriegt Geld, indem er sich schlicht die Hälfte des Selbstbehalts erspart. Klingt jedenfalls gut. Ob's handhabbar ist, wird sich zeigen.

SVA-Einigung Seite 3

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2010)

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