Plötzlich wurde ich „Linker“ genannt.

Als ich plötzlich „links“ war

Was heute als „links“ oder „rechts“ gilt, hat wenig mit dem zu tun, was der klassischen Einteilung des politischen Spektrums entspricht. Über die Schwierigkeit, sich in der Mitte der Gesellschaft zu positionieren.

Plötzlich wurde ich „Linker“ genannt, obwohl das eigentlich nicht mit meinen Positionen als Verfechter der Leistungsgesellschaft und der Marktwirtschaft zusammenpasste: Es reichte, christliche Ansätze in der Asylpolitik zu vertreten, Entwicklungshilfe und Klimaschutz für notwendig zu erachten und Toleranz gegenüber Andersgläubigen und Menschen mit anderer sexueller Orientierung gutzuheißen. Schon war die Außenwirkung von der Mitte hinaus an den Rand verrutscht.

Was noch vor Kurzem als christlich oder liberal durchging, ist jetzt also links. Mir kommt vor, sie schubsen dich: „Rück doch mal nach rechts“, heißt es auf subtile Weise. Denn wer sich weigert, in die Begeisterung für Fahnen, alte Bundeshymnentexte oder Grenzkontrollen zu verfallen, bekommt seinen Stempel aufgedrückt. Mir ist aber bewusst, das funktioniert nicht nur in eine Richtung: Das Bedürfnis, Menschen einzuteilen, sie als Linke oder Rechte zu kategorisieren ist zwar kein neues Phänomen, aber es erlebt eine breite Renaissance. Bist du einer von uns oder einer der anderen? Um das festzustellen, reichen wenige Worte, Indizien, manchmal sogar Kleidungsstücke.

Was ist heute überhaupt links, was rechts?

Es hat wenig mit dem zu tun, was der klassischen Einteilung des politischen Spektrums entspricht. Die Linken werden mit heimatlosen, dekadenten Zeitgenossen gleichgesetzt, die mit Political Correctness nerven; die Rechten als faschistoide Antidemokraten dargestellt, die mit ihrem Egoismus den Zusammenhalt der Gesellschaft zerstören. Es polarisiert sich die politische Debatte nicht mehr an traditionellen Interessenslinien und Ideologien wie noch in den 1960er- und 1970er-Jahren, sondern in unterschiedlichen Zugängen zu aktuellen Themen und Symbolen. Das Eintreten für Zuwanderungsbeschränkungen etwa – ob gemäßigt geordnet oder radikal restriktiv, da gibt es wenig Differenzierung – gilt als rechts. Wer Sympathien für Greta Thunberg hat, die mit jugendlichem Enthusiasmus mehr Klimaschutz einfordert, wird links verortet. Eine Anerkennung für den Mut von Carola Rackete, die trotz rechtlicher Konsequenzen ein Flüchtlingsboot in einen italienischen Hafen gesteuert hat, ist für viele nur noch das Tüpfelchen auf dem „i“ eines „ganz Linken“. Und wer – so wie ich – dann noch die Lieder von Herbert Grönemeyer hört: Gottseibeiuns! Es ist fast schon so absurd wie vor 30 Jahren, als eine Begeisterung für Wagner-Opern umgehend als Indiz für eine rechtsradikale Gesinnung interpretiert wurde.

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