Damals schrieb

Wiener Ministerliste

Wien, 18. März 1870.

Die Fertigung von Ministerlisten ist eine der schwungvollst betriebenen und einträglichsten Wiener Industrien geworden. Der Geschäftszweig hat viel Verlockendes, da er geringes geistiges Anlage-Kapital erfordert und längst nicht mehr der Mode unterworfen ist – denn für die große Mehrheit der auswärtigen und der Provinzblätter ist allmonatlich eine neue Wiener Ministerliste so zum Lebensbedürfnis geworden, wie es im Anfange des Jahrhunderts noch der allmonatliche Aderlaß war. Der Fabrication steht eine große Zukunft bevor, da die tägliche Lectüre einer neuen Ministerliste für viele Tausende von Bewohnern der Monarchie unentbehrlich werden wird, wie der Frühkaffee oder das Abendseitel, und mit der Zeit wird auch die Dampfkraft die Production erleichtern. Der erste Schritt zur Großindustrie ist vollbracht; die Arbeitstheilung ist insoweit durchgeführt, als die nach dem Geschmacke und Bedürfnisse der Consumenten verschiedenen Listen aus verschiedenen Federn hervorgehen. Noch ein Jährchen, und der Eine beschäftigt sich mit der Herstellung von neuen Ministern des Innern, während ein Anderer nur neue Justizminister oder Minister-Präsidenten schnitzt.

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