Neue Musik

Clemens Gadenstätter: Wecker und Fahrradklingel, neu gehört

(c) Kairos
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„Semantical Investigations“. Clemens Gadenstätter reißt Alltagssignale aus ihrem Zusammenhang, wertet sie musikalisch um und baut aus ihnen kapitale, übersprudelnd vergnügliche Stücke.

Ein rasselnder Wecker: für viele eine allmorgendliche Zumutung. Eine Fahrradklingel. Pfeifen, Hupen, Ticken. Sirenen und Martinshörner. Pausengongs. Ja, das hat man alles schon gehört und darauf meist im beabsichtigten Sinn reagiert, ist also aufgestanden, den Eiligen aus dem Weg gegangen, war alarmiert . . . Die Funktion stand immer im Vordergrund: Man hat das alles nicht an und für sich gehört, nicht als Musik. Genau darum geht es Clemens Gadenstätter (*1966) in seinem Diptychon „Semantical Investigations“: zunächst um eine neue sinnliche Wahrnehmung sattsam bekannter Signale, und dann um das, was diese Zeichen losgelöst von ihren Funktionen auslösen können und was mit ihnen Neues zu erzählen wäre.

Dabei erschöpft sich Gadenstätters Arbeit keineswegs im Collagieren von Alltagsgeräuschen und ihrer ironisierten Umwertung zur Kunst. Elektronische Zuspielungen sind vorhanden, aber mit verwischten Konturen integriert in live gespielte Musik – mit Stars der Szene: etwa dem Geiger Ernst Kovacic, dem Klangforum Wien unter Etienne Siebens, der Pariser Gruppe „L'Instant Donné“ oder dem E-Gitarristen Yaron Deutsch. Und plötzlich wird das alles mehr und etwas Anderes. Wenn da z. B. ein so elementares Motiv wie eine aufsteigende Quart in eine repetierte Note mit Punktierung mündet, dann kann das auf „O Tannenbaum“ ebenso verweisen wie auf das „Treulich geführt“ aus Wagners „Lohengrin“ – und schon hört man sozusagen bei jeder Wiederkehr extra neugierig hin, weil man den Bedeutungswiderspruch zweier unterschiedlicher Sphären, Weihnachten und Hochzeit, aufklären möchte. Denn die Kirchenglocken, die auch einmal wie aus weiter Ferne ans Ohr dringen, könnten ja für beide stehen.

Lang wie eine Symphonie

Gadenstätters Musik lässt die Assoziationen Purzelbäume schlagen, und jedes Mal entdeckt man neue Abwege, Verweise und Zusammenhänge. Kein Wunder bei so prall gefüllten, manchmal geradezu hyperaktiv wirkenden Stücken, die durchwegs über eine halbe Stunde dauern: In früheren Zeiten hätte man derlei Kaliber ohne Weiteres Symphonie genannt. Solche Längen können einschüchternd wirken, und es empfiehlt sich wohl nicht, mehr als ein Werk auf einmal zu hören. Gadenstätter gibt zu, dass bewusste Wahrnehmung im Gegensatz zur Berieselung durchaus anstrengend sein kann – aber keine besondere Vorbildung verlangt.

Dass Gadenstätter, hat er sich einmal in sein Material vergraben, zur Breite tendieren kann, war schon 2003 bei seinem einstündigen „Comic Sense“ zu erleben, wo er sich mit der Paradoxie als treibender Kraft an allerlei Komik erzeugenden musikalischen Techniken abarbeitete und nebenbei auch die Gattung des Klavierkonzerts zur Debatte stellte. Ein Schenkelklopfer ist dabei nicht herausgekommen, aber doch ein im besten Sinne unterhaltsames Stück. Das trifft neben den „Semantical Investigations“ auch auf die „Iconosonics“ (2009/10) zu, in denen er Versatzstücke aus dem kompositorischen Arsenal der Geschichte durchknetet. Hier wie dort gilt: Trotz breiter Anlage verlieren Gadenstätters Erkundungen nicht an Tiefe – und das ursprünglich Banale versprüht, neu aufbereitet, den sinnlichen Reiz des Überflusses.
Ob das umgekehrt auch bedeuten könnte, dass der Wecker danach vergnüglicher klingelt? Selbstversuch empfohlen.

Clemens Gadenstätter: „Semantical Investigations“ (Kairos)

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