Zubereitete Fremde.
Einsichten eines Fotohistorikers

Lob der Ansichtskarte! Vom Reisen auf dem Wohnzimmertisch

Mit dem Finger auf der Landkarte: Auf dieses bescheidene Format ist unsere Reiselust derzeit zurechtgestutzt. Man kann aber auch in Urlaubsgrüßen vergangener Tage wühlen. Einsichten eines Fotohistorikers.

Zum ersten Mal nach China reiste ich im Volksschulalter, den Nordpol, die Mongolei, Kanada, Südafrika, Alaska und Neuseeland besuchte ich wenig später, und es sollten noch viele weitere Länder- und Städtereisen folgen. Die meisten Ziele waren weit entfernt, fremd anmutend und mir nur vom Hörensagen bekannt. Das Kinderspiel ging so: „Warst du schon einmal in . . . Brasilien?“ „Nein?“ „Ich schon – mit dem Finger auf der Landkarte.“ Der Schulatlas meiner Schwester schlug unendlich viele Reiseziele rund um den Globus vor: Island und Madagaskar, Afghanistan und Bolivien, Hawaii und Mauritius.

Es ist gewiss kein Zufall, dass mir dieses Kinderreisespiel gerade jetzt wieder einfällt, da die Grenzen vieler Länder bis auf Weiteres geschlossen sind. Und es gibt noch ein weiteres imaginäres Reisespiel, das ich als junger Erwachsener zu spielen begann und das mich bis heute begleitet: das Reisen in Ansichtskarten. Untergebracht sind diese Fundstücke, die ich lange Zeit auf Flohmärkten und bei Trödlern fand und in der jüngeren Vergangenheit im Internet, in einer großen Kartonkiste mit ausziehbaren Laden. Ich tauche ein in diesen Bilderberg der geballten Fremde und lasse mich in der Fantasie treiben, in Weltgegenden, in denen ich nie war. Ich besuche Städte und Landschaften, ersteige Berge und reise auf Flüssen, ich überschreite Grenzen, die ich nie zuvor überschritten habe. So wie im weit entrückten Spiel aus Kindertagen führt mich auch hier der Zufall, er zieht Reisewege von Kontinent zu Kontinent, von Stadt zu Stadt. Zickzack.

»Robert Musil über Ansichtskarten: „Wenn die Welt so aussähe, könnte man wirklich nichts Besseres tun, als ihr eine Marke aufzukleben.“«

Wenn ich meine Postkartenschachteln öffne, kommen mir die Ansichten recht ungeordnet entgegen. Obwohl: Bestimmte örtliche und motivische Häufungen gibt es sehr wohl. Erstaunlich viele Karten zeigen kilometerlange Strände voll sommerlichen Glücks – weit weg, etwa auf Bali, oder recht nah, etwa an der Adria: Strände in Sottomarina, auf Mallorca, in Caorle, Ferienstrände an der Nord- und Ostsee oder in der Bretagne. Etwa die Bucht von Baule an einem heißen Sommertag in den 1920er-Jahren. Mitten im Sand eine Familie in leichter Strandkleidung – auf Eseln reitend. Der Farbauftrag dieser Karte ist, wie so oft auf Postkarten, exzessiv: der Sand nicht weiß oder grau, sondern orange-rot, die Strandhütten nicht braun, sondern knallig rot und gelb gefärbt. „Die Ansichtskartenpostkarten“, bemerkte der Schriftsteller Robert Musil einmal süffisant, „sehen in der ganzen Welt einander ähnlich, sie sind koloriert; die Bäume und Wiesen giftgrün, der Himmel pfaublau, die Felsen grau und rot, die Häuser haben ein geradezu schmerzendes Relief, als könnten sie jeden Augenblick aus der Fassade fahren; und so eifrig ist die Farbe, dass sie gewöhnlich auch noch auf der anderen Seite ihrer Kontur als schmaler Streifen mitläuft. Wenn die Welt so aussähe, könnte man wirklich nichts Besseres tun, als ihr eine Marke aufzukleben und sie in den nächsten Kasten zu werfen.“

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