Für Zeiten wie diese

Corona und die feine Unterwäsche unseres Bewusstseins

Schutzmaske mit Sichtfenster
Schutzmaske mit SichtfensterAPA/dpa/Roland Weihrauch
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Anfangs sahen alle Masken gleich aus, doch bald begann die Nation zu nähen – auf der Suche nach Distinktion mittels Virenschutz.

„Unterschiede müssen sein“, sagte Fred Sinowatz, einst Unterrichtsminister, gern und setzte verschmitzt hinzu: „Das ist ein alter sozialdemokratischer Grundsatz.“ Damit verwirrte er Freund und Feind. Konservative schmunzelten, Parteifreunde lächelten verkniffen. War es pannonische List, die aus dem Minister sprach, oder die Einsicht eines Intellektuellen, der er zweifellos war?

Wie recht er hatte, denke ich, wenn ich die Coronamasken sehe. Anfangs sahen sie alle gleich aus; man nahm, was man bekam. Dann begann die Nation zu nähen. Alles trug den Virenschutz, aber man wollte sich unterscheiden. Innerhalb weniger Tage waren Masken mit Totenköpfen, gefletschten Zähnen oder Kussmündern zu sehen. Verwegene trugen Cups von Büstenhaltern, Regierungsmitglieder Masken in der Parteifarbe. Mich erinnerte das an das China der Kulturrevolution. Eine Zeit lang war der Mao-Anzug die Einheitskleidung für Männer wie Frauen. Wenn man aber in den Achtzigerjahren China besuchte, erkannte man unzählige Unterschiede, bis hin zur Form der Jackenknöpfe. Die Mao-Uniformierung hatte ausgedient. Pierre Bourdieu hätte daran ein Anschauungsmaterial gehabt, genau so wie an den Variationen der Coronamasken heute. In „Die feinen Unterschiede“ untersucht er die Distinktionen, durch die sich Menschen voneinander unterscheiden: Der persönliche Geschmack verrate immer auch die kulturelle und soziale Identität seines Trägers. Man entscheide zwar individuell, drücke aber immer aus, welcher Gesellschaftsgruppe man sich zugehörig fühle.

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