Neues Album

Norah Jones' wertkonservatives Musik-Manifest

Diane Russo
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Norah Jones musiziert extrem knapp am Kitsch vorbei - und schreibt in New York Lieder, die nach Ländlichkeit duften. Auf ihrem superben neuen Album „Pick Me Up Off The Floor” zelebriert sie das Dunkle als etwas Tröstliches. Ein Glanzlicht!

Da mag sie noch so viele Gene ihres Vaters Ravi Shankar in sich tragen, Norah Jones verkörpert (nicht nur) die musikalischen Ideale der amerikanischen Provinz. Dem ihr häufig zugesprochenen Genie traut sie nicht über den Weg. Stattdessen sucht sie die Sicherheit des musikalischen Handwerks. Die Dramen, die sie in knapper Liedform entwickelt, verbreiten eine Anmutung von heiler Welt, obwohl sich die Problematiken darin oft türmen. Norah Jones lebt in Brooklyn, New York, ihre Kunst aber atmet die reinste Landluft.

Ihren Lieder, viele davon entstehen auf ihrer Küchenbank, geht alles Urbane ab. Da sind wohl ein Alzerl Blues und ein paar Jazzaromen, aber viel mehr Ingredienzien aus Country und Folk. Mit ihrem Nebenprojekt „Puss N Boots“ betreibt sie, auch auf dem eben erschienenen Album „Sister“, gediegene Traditionspflege, herzt Klassiker von Tom Petty bis Dolly Parton. Das liebt sie. Vor einigen Jahren hat sie sogar mit Billie Joe Armstrong, dem Sänger von Green Day, ein ganzes Album der Everly Brothers aus dem Jahr 1958 nachgestellt.

Nur selten bricht sie aus dieser Art von Regionalradioidyll aus. Ein Karrierehighlight glückte 2016 mit dem jazzigen „Day Breaks“, das sie u. a. mit Saxofonlegende Wayne Shorter aufgenommen hat. Mit „Pick Me Up Off The Floor“ steht Ende dieser Woche nun ein neues Album in den Regalen der echten und der virtuellen Tonträgerhändler: ein kammermusikalisches Glanzlicht, das geprägt ist von zarten Rhythmen, intimem Gesang und ganz viel instrumentalem Schönklang.

Schluchzendes Cello, raue Stimme - die ideale Musik für Schmerzverliebte

Norah Jones beherrscht die hohe Kunst, extrem knapp am Kitsch vorbeizumusizieren. Der aus elf Stücken bestehende Liederreigen beginnt tränensatt. „How I Weep“ heißt der effektvoll mit Flüsterstimme vorgetragene Opener. Cello, Viola und Geigen schluchzen, während Jones' Stimme angenehm rau bleibt. Minutiös beschreibt sie die physischen Auswirkungen eines traumatischen Verlusts. „Inside I weep and I weep for a loss that's so deep that it hardens and turns into stone. There it stays and rolls through bones till they crumble.“ Der Planet hält in seiner Rotation inne, die Sterne starren teilnahmslos aufs menschliche Elend. Am Ende staunt die Heldin über sich selbst. „And I wonder what kind of person am I, who weeps for a loss but can't tell it goodbye.“

Schmerzverliebtheit eben. Ein weit verbreitetes Phänomen. Norah Jones macht die ideale Musik für Menschen mit dieser seelischen Disposition. Zwei Songs weiter bestrickt „Hurts To Be Alone“, eine mit seltsam teilnahmsloser Stimme gesungene Ode an die eigene Verlorenheit. Den gefühligen Part übernehmen da die Backgroundsängerinnen. Zudem erfreut eine altmodische Schrumm-Schrumm-Orgel. Jeff Tweedy, Mastermind der Erfolgsband Wilco, assistiert Jones bei zwei Liedern als Co-Songwriter und Gitarrist. Die Schlussstrophe von „I'm Alive“, einer ihrer beider Kollaborationen, macht Schmunzeln: „I care a lot, I know the things I'm not. It's alright, it's ok, and it's not. Maybe things change.“

Auch die Heldin von „Stumble On My Way“ ist eine seltsame Heilige. Unmittelbar nach dem Murmeln der ersten Klänge verschwindet die Sonne hinterm Horizont. Wenn die Protagonistin am Ende des Songs in unreiner Gangart aufbricht, dann dämmert schon der Morgen: Die verlorene Nacht symbolisiert die pure, alle Uhrzeigerbewegung absorbierende Gegenwart. Ein anderes Highlight ist „Say No More“ mit seinen markanten Bläsersätzen, geschrieben gemeinsam mit Sarah Oda, die schon auf dem Album „Day Breaks“ drei Lieder mitkomponiert hat.

„Don't look so sad, it's not that bad"

Wunderschön ist auch das unverschämt nostalgische „Heartbroken, Day After“. Es klingt, als stamme es aus der goldenen Backhendlzeit des Broadway: sanfte Chöre, ein nachdenklich perlendes Klavier, dezentes Beserlschlagzeug und wimmernde Slidegitarren. „Don't look so sad, it's not that bad”, formuliert Jones Tröstliches ins Idyll dieser Klänge. Es ist überhaupt nicht einzusehen, dass in der Popmusik stets nur das Aufpeitschende und Niederknüppelnde als progressiv gilt. Norah Jones zeigt, wie richtig angewandte Sanftheit zur Macht werden kann. Sie reetabliert die profunde Melodie in Zeiten, wo viele Erfolgreiche ihre Sounds nur dank avancierter Technik zusammenbasteln, ohne dabei Musik zu machen.

In diesem Licht besehen ist Norah Jones die Galionsfigur derer, die nicht aufs Digitale setzen. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass, lang nachdem die Trugbilder des Zeitgeists verpufft sein werden, dieses vielschichtige Album noch gehört werden wird. „Pick Me Up Off The Floor“ ist ein wertkonservatives Manifest amerikanischen Musikmachens. In ihm entfalten sich Chaos und Schönheit zu gleichen Teilen.

Norah Jones: „Pick Me Up Off the Floor" (Blue Note)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.06.2020)

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